Youth For Understanding im Studel der Krise

Jul 16, 2020 | Aktuelles, Jugend im Shutdown

Wie das Coronavirus gemeinnützige Austauschorganisationen bedroht

Hunderte Austauschschüler sind mit der Organisation YFU im Austauschjahr, Hunderte als Gastschüler in Deutschland, als sich die Corona-Krise ihren Weg bahnt. Von einem auf den anderen Tag müssen sie zurück. Wie drei Austauschschülerinnen die Zeit erlebten – und die gemeinnützige Organisation um ihr Überleben kämpft.

Am Anfang, sagt Victoria Schweigert, fühlte sie vor allem Wut und Enttäuschung. Zehn Monate sollte sie in dem kleinen 5000-Einwohner-Städtchen Grand Falls in Kanada verbringen, mit ihren Gasteltern John und Lisa und dem 14-jährigen Gastbruder Alexis. Nach sieben Monaten waren das für sie Menschen, die tatsächlich zu einer Familie geworden waren. Doch dann kam das Coronavirus und innerhalb von wenigen Tagen war klar: Die 17-Jährige muss zurück in ihre Heimatstadt Wolfsburg.

Mitte März entschieden sich die gemeinnützige Jugendaustauschorganisation Youth For Understanding e.V. (YFU) und ihre zahlreichen Partner im Ausland, alle Programme abzubrechen. Rund 800 Schülerinnen und Schüler aus Deutschland befanden sich zu diesem Zeitpunkt mit YFU in knapp 40 Ländern – Schüler aus Italien und China waren schon zurückgeholt worden, 450 Jugendliche aus 50 Ländern waren in Deutschland. „Vermutlich war es die schwerste Entscheidung in der Geschichte von YFU – und der Verein ist immerhin bald 65 Jahre alt“, sagt Geschäftsführer Knut Möller, der schon seit mehr als 30 Jahren bei dem Verein tätig ist. Denn für YFU mit seinen 70 hauptamtlichen Mitarbeitern und mehr als 4000 Ehrenamtlichen ist damals schon klar: Die Corona-Krise hat das Potenzial, die Organisation in ihrer Existenz zu gefährden. „Wir wussten aber, dass wir unter Lockdown-Bedingungen und mit massiven Reisebeschränkungen unserer Verantwortung gegenüber den Schülern nicht in dem Maße hätten gerecht werden können, wie das bisher für uns selbstverständlich war“, erklärt Möller. Es sei zudem ein unkalkulierbares Risiko gewesen, wo und wie sich das Virus ausbreiten würde.

„Ich war dann natürlich sauer und enttäuscht und konnte das gar nicht verstehen“, erinnert sich Victoria. Weil es in Deutschland mehr Infizierte gegeben habe als in Kanada, „fand ich es zu dem Zeitpunkt gefährlicher, nach Deutschland zu fliegen“. Für Schülerinnen und Schüler wie sie, die sich schlicht nicht vorstellen können, früher nach Hause zurückzukehren, gibt es in manchen Ländern eine Möglichkeit zu bleiben: Sie müssen das auf eigenes Risiko tun. Auch wenn es nicht mehr ihre Pflicht wäre: Die Organisation sagt für solche Fälle zu, bei Problemen zu helfen, wenn es möglich ist. Das bedeutet aber auch, dass sich die Jugendlichen und ihre Eltern im schlimmsten Fall selbst um Rückreise und andere Komplikationen kümmern müssen. Wer sich hingegen dafür entscheidet zurückzukehren, muss nur noch seine Koffer packen. Die ungeplante Rückreise und die dazugehörige Organisation übernimmt YFU in jedem Fall.

Für Victoria und ihre Eltern eine schwierige Entscheidung. Die Austauschschülerin erzählt gerne von ihrem Austauschjahr in Grand Falls, nur wenige Kilometer vor der Grenze zum US-Bundesstaat Maine entfernt. Sie beschreibt den Ort als „Klein aber fein“ mit „schöner Natur“ und „supernetten Leuten“. Man merkt ihr an, dass sie dort glücklich war. Auf die Frage, was das Highlight ihres Auslandsaufenthalts war, antwortet sie, neben einer Reise seien es die Gastfamilie und die Freunde in der Schule gewesen. „Kleine Momente, die das Auslandsjahr ausmachen.“ Auch in ihrer Gastsprache Französisch habe sie sich bereits gut verständigen können, obwohl sie lange nur Englisch gesprochen habe. Ein paar Monate mehr hätten ihr dennoch sicher gutgetan. Monate, die sie normalerweise gehabt hätte.

Doch in einem Telefonat habe ihre Mutter erklärt, dass es möglicherweise Probleme mit dem Visum geben könnte, sollten später Flüge gestrichen werden. „Das habe ich dann auch eingesehen“, erzählt die ehemalige Austauschschülerin. „Meine Freundin war nicht mit YFU im Auslandsjahr und musste alles selbst organisieren. Es war schwierig, Flüge in der Zeit zu bekommen. Da war ich froh, dass YFU das für uns übernommen und sich so gut gekümmert hat.“

Sich gut um Austauschschüler, Eltern und Gasteltern zu kümmern, ist für die mehr als 60 Jahre alte Organisation Selbstverständnis und -verpflichtung zugleich. Trotz massiver zusätzlicher Kosten wurden bis auf wenige, die ihr Auslandsjahr auf eigenes Risiko fortführen wollten, alle 800 Austauschschüler zurückgeholt. Ein riesiger logistischer Aufwand, der den Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle in Hamburg alles abverlangte. Mehr als 60 Jugendliche kamen schließlich nur mit der Hilfe des Auswärtigen Amtes zurück.

Heute, wenige Monate später, hat nicht nur YFU mit finanziellen Verlusten zu kämpfen – die Corona-Krise trifft die gesamte Austauschbranche hart. Besonders betroffen sind davon die gemeinnützigen Vereine wie YFU, die keine Gewinne machen und nur in engem Rahmen Rücklagen bilden dürfen. Bei dem Verein sind inzwischen die meisten der Angestellten in Kurzarbeit.

Es wird mit massiven Umsatzeinbrüchen in der kommenden Austausch-Saison gerechnet. Denn: Knapp 900 Teilnehmende hatten für das nächste Schuljahr bereits Verträge unterzeichnet. Ein Großteil der Kosten sind längst angefallen. Doch nur ein Bruchteil der Schülerinnen und Schüler wird sich vielleicht im Herbst auf den Weg ins Ausland machen können – und auch bei ihnen gilt: Die aktuelle Situation behält der Verein im Auge. „Es muss gesichert sein, dass wir das Wohlergehen der Schüler garantieren können, und das ist natürlich auch vom aktuellen Infektionsgeschehen abhängig“, sagt Möller.

Lange hoffte der Verein auf das von der Bundesregierung beschlossene Konjunkturpaket. Das sieht für gemeinnützige Vereine einen maximalen Erstattungsbetrag von 150.000 Euro für März bis Mai vor. Was zunächst nach viel Geld klingt, kann aber nicht mal die Hälfte der Personalkosten für einen Monat decken. Hinzu kommen Kredite, die die Bundesregierung in Aussicht stellt, doch weil gemeinnützige Vereine wie YFU keine Gewinne machen dürfen, könnten sie diese nicht zurückzahlen. Beides ist laut Geschäftsführer Möller keine effektive Hilfe.

Trotz dieser pessimistischen Prognose ist er sich sicher: „Es wird YFU in irgendeiner Form auch nach der Krise geben. Wir haben Tausende Ehrenamtliche und Mitglieder sowie sehr viele Förderer. Wenn uns niemand von außen hilft, wird die Organisation leiden, der Wiederaufbau wird schwierig, aber wir müssen es dann aus eigener Kraft schaffen.“ Doch das Netzwerk der Ehrenamtlichen benötigt ebenfalls Finanzierung – auch wenn ihnen kein Gehalt gezahlt wird: Wichtige Fortbildungsmaßnahmen, Reisekosten und Verpflegungspauschalen sind zwingend notwendig, um die hohe Qualität der Austauschprogramme zu garantieren. Interkulturelle Trainings vor, während und nach der Zeit im Ausland sowie die persönliche Betreuung vor Ort werden ausschließlich von Ehrenamtlichen durchgeführt. Dafür müssen viel Wissen vermittelt und Strukturen erhalten werden. Und das kostet Geld.

Möller hofft deswegen weiter auf die Unterstützung der Bundesregierung für die gemeinnützigen Austauschorganisationen, die sich im Verband AJA organisieren. Einem Aufruf, dem Bundestagsabgeordneten in ihrem Wahlkreis zu schreiben, folgten Hunderte YFU-Ehrenamtliche. Man habe klarmachen wollen, dass das Konjunkturpaket schlicht an dem Bedarf der Organisation vorbeigeht. „Wir wissen jetzt, dass man uns wirklich helfen will, wir werden in dem Paket explizit genannt. Jetzt muss eben nachgebessert werden, damit die Hilfen wirksam sind“, fordert er.

Denn es ist auch im Interesse des Staates, dass die Organisation weiter existiert. „Durch die Teilnahme an unseren Programmen erwerben die Schüler nicht nur individuelle Fähigkeiten,
sondern sie tragen auch zum friedlichen Zusammenleben in unserem Land und zu einer funktionierenden Demokratie bei“, sagt Möller. Wer ein Jahr lang in einem fremden Land gelebt hat, ist deutlich weniger empfänglich für Rassismus und Intoleranz und sorgt in seinem Gastland ebenfalls für diesen Effekt, so die Logik. Deswegen will YFU auch in Zukunft wieder in jedem Jahr Hunderte Schülerinnen und Schüler in alle Welt schicken und in Deutschland aufnehmen.

Austauschschülerinnen wie Victoria. Oder wie Mara Barnick und Amelie Kraus, die beide in Uruguay von der Corona-Krise überrascht wurden. Sie hatten gerade ihre erste Woche Schule nach den
viermonatigen Sommerferien hinter sich, die in Uruguay von Ende November bis Anfang März dauern. Da es in diesem Land im Sommer so heiß wird, dass man am liebsten gar nicht die Wohnung verlässt, findet Mara: „Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich die Zeit zu wenig genutzt habe.“

Umso mehr schwärmt sie von der ersten Woche nach den Ferien, die gleichzeitig ihre letzte war. Als sie am Freitag ins Wochenende startete, ahnte sie noch nicht, dass sie nur eine Woche später im Flieger zurück nach Deutschland sitzen würde. In Uruguay habe man erst an jenem Freitag etwas vom neuartigen Coronavirus in den Medien mitbekommen. Am selben Tag riegelte die Regierung die Städte des Landes ab, und ab dem Montag darauf durfte niemand mehr zur Schule. Zwar habe Mara schon vorher etwas von Sars-CoV-2 auf Instagram gelesen, aber sie habe sich nicht denken können, dass dieses Virus einmal Konsequenzen für ihr Austauschjahr haben könnte.

Das bestätigt auch Amelie, die noch später im Flugzeug so überrascht war, dass sie nicht einmal geweint habe. „Ich habe mich betäubt gefühlt, ich konnte das gar nicht realisieren“, sagt sie.

Heute können alle drei Austauschschülerinnen die Reaktion von YFU verstehen. Auch wenn sie gerne noch länger geblieben wären und auch mal wütend oder traurig waren über die Entscheidung, das Austauschjahr frühzeitig zu beenden. Doch sie sind überzeugt, auch von den sieben Monaten, die sie im Ausland waren, langfristig zu profitieren.

Julian Hoffmann
08.07.2020

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