Das Schuljahr nach Corona

Aug 19, 2020 | Aktuelles, Jugend im Shutdown


Interview mit dem Autorenduo Julia Egbers und Armin Himmelrath

Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf Schulen, Unterricht, Homeschooling und auf neue Lernmodelle haben gezeigt: Am deutschen Schulsystem muss sich einiges grundsätzlich ändern. Aber was? Und wie? Wir haben mit Julia Egbers und Armin Himmelrath gesprochen, die mit ihrem neuen Buch “Das Schuljahr nach Corona” etliche Antworten und Erklärungen auf diese Fragen geben.

PNJ: Sie haben mit vielen Eltern gesprochen und Erfahrungsberichte übers Homeschooling gesammelt. Was waren die prägendsten Erlebnisse für Eltern und vor allem für junge Menschen?
Himmelrath: Aus meiner Sicht: Wenn das Lernen auf Distanz besonders schlecht funktioniert hat – oder besonders gut. Da gab es Familien, die haben von einzelnen Lehrerinnen und Lehrern wirklich monatelang überhaupt nichts gehört. Und andererseits haben mir Jugendliche mit leuchtenden Augen erzählt, wie geil sie plötzlich Mathematik finden, weil die Aufgaben in eine virtuelle Stadtrallye verpackt wurden.
Egbers: Die eigene Strukturierung der Aufgabenbewältigung und des Tagesablaufs – unabhängig von Unterrichtszeiten und Busfahrplänen, das tat vielen Jugendlichen gut. Einige merkten in Gesprächen aber auch kritisch an, dass sie durch die fehlende Taktung viel mehr „gedaddelt“ hätten und die Nacht zum Tage gemacht haben. Für manche Familienstrukturen dürfte das herausfordernd gewesen sein.

PNJ: Wir haben alle von Familien gehört, die Homeschooling trotz Stress und Streitereien auch als bereichernd empfunden haben. Man ist sich näher gekommen. War also alles nur schlecht?
Himmelrath: Nein, natürlich nicht. Aber es war eben ein Glücksspiel für die Familien: Ist die Schule, sind die Lehrerinnen und Lehrer gut auf den Lockdown vorbereitet? Sind sie flexibel und mutig? Oder kapitulieren sie vor den aktuellen Herausforderungen? Viele Familien haben Aufgaben übernommen oder übernehmen müssen, die eigentlich von der Schule geleistet werden sollten. Das konnte zur Belastung werden – oder auch als besonders bereichernd empfunden werden.
Egbers: Ich schließe mich der „Glücksspiel-Einschätzung“ an. Ohnehin im Schulsystem benachteiligte Schüler*innen, etwa weil sie aus bildungsfernen Familien kommen oder keine digitale Ausstattung für das Lernen zuhause hatten, haben die neue Situation ganz anders erlebt als Kinder und Jugendliche, deren Eltern etwa selber zuhause waren und sich Zeit nehmen konnten und wollten.

PNJ: Ihr Buch will Forderungen und Ideen „für eine gestärkte Schule nach Corona“ vorstellen. Was sind die Kernforderungen?
Himmelrath: Wir müssen über das Lernen im schulischen Kontext neu nachdenken. Wir brauchen ganz sicher mehr Medienkompetenz, bei Jugendlichen und Lehrkräften gleichermaßen. Außerdem sollten wir über schulische Bewertungsmaßstäbe diskutieren: Dass das Sitzenbleiben in einigen Bundesländern in diesem Sommer wegfiel, fand ich toll – und dass das Schulsystem trotzdem nicht zusammengebrochen ist, zeigt, dass wir durchaus mutiger sein könnten beim Ausprobieren neuer Wege.

PNJ: Schule ist ja nicht gleich Schule. Was muss sich bei den unterschiedlichen Schultypen ändern?
Egbers: Pauschale Vorschläge für sämtliche Schultypen zu machen, halte ich für schwierig. Sicherlich haben wir gesehen, wie bedeutsam Medienbildung schon in der Grundschule ist. Es wäre klasse, wenn Schüler*innen bereits in den ersten Klassen an einen verantwortungsvollen Medienumgang herangeführt werden. Zumal drei viertel der Kinder mit zehn Jahren bereits ein Handy besitzt. An weiterführenden Schulen darf offener über neue Unterrichtskonzepte nachgedacht werden: Schaffen von neuen Lernräumen, mehr Kreativität in der Unterrichtsgestaltung, mehr Projektarbeit statt Auswendiglernen.

PNJ: In „Vorzeigeländern“ wie Finnland lief im Frühjahr vieles ganz gut über bestimmte online-Module. Orientieren sich Ihre Vorschläge auch an solchen Blicken über den Tellerrand?
Himmelrath: Natürlich schauen wir auf Erfahrungen, die anderswo schon gemacht wurden. Das Spannende ist aber, dass es viele solcher Erfahrungen auch in Deutschland gibt: In der Regel da, wo engagierte Schulleitungen mit einem guten Kollegium gehandelt haben. Da spielte es dann keine Rolle, ob es eine private oder staatliche Schule war, oder welche Schulform betroffen war. Was zählte, war das pädagogische Handeln – mit allen Risiken des Scheiterns. Davon lässt sich wahnsinnig viel lernen und abgucken, und genau das haben wir in unserem Buch auch versucht.

PNJ: Schule sollte idealerweise auch immer den Kontakt zu den Eltern lebendig halten. Hat Corona hier neue Einsichten vermittelt, und werden diese Erfahrungen die Kommunikation zukünftig beeinflussen?
Egbers: Corona hat gezeigt, wie bedeutsam der enge Kontakt ist. Ich habe selber häufiger mit Eltern telefoniert. Plötzlich schien der Draht kürzer, da es eine andere Anforderung wie Berechtigung gab, miteinander in Kontakt zu treten. Wenn Schüler*innen etwa schwierig zu erreichen waren, hat man das Gespräch mit Eltern gesucht. Corona hat gezeigt, dass Lernen ein Prozess mit vielen Beteiligten ist und ganzheitlich gedacht werden sollte.

PNJ: War bzw. ist Corona eigentlich auch eine Chance für das System Schule? Können wir jetzt Dinge ändern, die ohne Corona nie zur Sprache gekommen wären?
Himmelrath: Corona hat ziemlich deutlich und schmerzhaft die Schwächen des Schulsystems offengelegt, von Chancenungleichheit bis zu digitaler Inkompetenz und – auf bildungspolitischer Ebene – organisierter Verantwortungslosigkeit. Darüber müssen wir reden und nach Wegen suchen, wie wir besseres und motivierendes Lernen hinbekommen. Denn darum geht es: um das Lernen. Das ist nicht neu, aber die Krise eröffnet die Chance, darüber mit neuem Blick zu diskutieren.

PNJ: Bei Thema Schule sprechen ganz oft Erwachsene darüber, wie sie die Schule für Kinder besser machen können. Wie wünschen sich eigentlich Kinder selbst die Schule nach Corona bzw. Schule in Corona-Zeiten?
Egbers: Kinder und Jugendliche sind neugierig, jeder Mensch möchte lernen. Das funktioniert am besten, wenn man seine persönlichen Interessen und Stärken einbringen kann. Schüler*innen vermissen genau diese Aspekte am althergebrachten Schulsystem. Sie hinterfragen Unterrichtsinhalte und die straffe Zeittaktung. Einige sehen das, was von ihnen heute verlangt wird, durchaus kritisch. Dass es auch anders und noch viel besser gehen kann, hat eben Corona gezeigt.
Himmelrath: So, dass sie den für sich jeweils besten Lernweg finden können. Lernen ist vielfältig und divers und funktioniert nicht nach einem bestimmten Rezept, das für alle gleich ist. Deshalb ist es so wichtig, dass Schule offen für ganz unterschiedliche Ansätze ist und dass die Schülerinnen und Schüler als Akteurinnen und Akteure ernst genommen werden. Ihnen zuzuhören und ihr Feedback, ist dabei der erste Schritt.

Interview: Jörg Wild

  1. August 2020

Armin Himmelrath, Julia Egbers (Hrsg.)
Das Schuljahr nach Corona

„Endlich wieder richtig Schule haben“, sagen die einen. „Regelbetrieb nach der Stundentafel, soweit es das Infektionsgeschehen zulässt“, die anderen. Allen aber ist der Wunsch nach einer Perspektive, nach Alltag und Gewohnheit gemein und danach, Schule wieder als berechenbar und verlässlich zu erleben. Wie weit sind wir davon entfernt? Was haben wir aus der Krise gelernt? Wie weiter in der «neuen Normalität»? Eltern, Expert*innen, Lehrkräfte und Betroffene schildern, was sie während der Krise erlebt haben, und leiten daraus Forderungen für eine gestärkte Schule nach Corona ab.

Julia Egbers arbeitet als medienpädagogische Beraterin für den Landkreis Cuxhaven und ist als Lehrerin tätig. Gemeinsam mit Armin Himmelrath hat sie das Buch „Fake News. Ein Handbuch für Schule und Unterricht“ im hep Verlag veröffentlicht. Neben Lehraufträgen an der Universität Oldenburg hält sie Vorträge und gibt Workshops zu medienpädagogischen und -ethischen Themen.

Armin Himmelrath schreibt als Bildungs- und Wissenschaftsjournalist vor allem für den Spiegel über das Bildungssystem. Er hat sich außerdem in mehreren Buchveröffentlichungen mit aktuellen Fragen der Schul- und Hochschulpolitik auseinandergesetzt.

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    In Krusevo/Nordmazedonien nehmen wir mit 5 Kolleg*innen an einer Jugendkonferenz teil, die Jugendmedien als Kernthema bearbeiten wird.

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    Fünf Kolleg*innen aus Israel informieren sich in Berlin rund um das Thema “Networking and building bridges in society through education”

  • 09.12.2024 - 15.12.2024
    Informationsreise nach Israel

    Informationsreise nach Tel Aviv, Jerusalem und Haifa für Fachkräfte der Jugendhilfe und Journalist*innen. Thema: “Networking and building bridges in society through education”.