Ohne WILMA läuft nichts
Nach 38 Tagen Fernunterricht und 11 Tagen Regelunterricht begannen für die Jugendlichen in Finnland am 31. Mai die Sommerferien. Jugendzentren und Sportvereine bieten umfangreiche Freizeitaktivitäten und Tagescamps im Freien an.
Fern- vs. Hausunterricht in Finnland
38 Tage lang waren die Schulen in Finnland geschlossen. Vom 18. März bis 13. Mai erlebten die finnischen Schüler/innen einen strukturierten Fern-Schulalltag. Anna J., 11 Jahre, besucht in Turku die 5. Klasse einer Gemeinschaftsschule mit 700 Schülern von der 1.-9. Klasse. Jeden Morgen um 8 Uhr vibrierte ihr Handy: Aufwachen? Ja. Aufstehen? Nein. Pünktlich um 8 Uhr verschickte ihre Klassenlehrerin die detaillierten Tagesaufgaben für jede Unterrichtsstunde laut Stundenplan. Wer die über das schulinterne Kommunikationssystem WILMA verschickte Nachricht nicht bis spätestens 9 Uhr gelesen hatte, wurde von der Lehrerin persönlich angerufen und daran erinnert, dass der Fernschultag begonnen hatte. Wurde ein/e Schüler/in mehrmals nicht angetroffen, schaltete sich das Schülerfürsorgeteam der Schule ein.
Hier lohnt sich ein kleiner Einschub, um auf WILMA einzugehen: Schule in Finnland – egal ob zu Corona-Zeiten oder im Regelbetrieb – geht nicht ohne WILMA. Wilma wurde ursprünglich in den Achtzigern als eine Art digitaler Stundenplan entwickelt. Heute ist Wilma das Kommunikationsmittel Nummer eins zwischen Schülern, Lehrern und Elternhaus. Alle Schüler von der Vorschule bis zum Gymnasium oder der Berufsschule erfahren über Wilma ihren Stundenplan, ihre Hausaufgaben, aktuelle Mitteilungen der Schule, kommende Tests, Noten, Vermerke über Stundenaktivität oder vergessene Lernmaterialien usw. Die Lehrer vermerken in Wilma die Schulaufgaben, laden ihre Schüler zu Online-Konferenzen in Teams ein und vergeben Noten. Je nach Spracheinstellung gibt es die Startseite auf Finnisch, Schwedisch oder Englisch – am Computer, auf dem Tablet oder Smartphone.
Mindestens einmal am Tag gab es eine Online-Videokonferenz über Microsoft-Teams mit der ganzen Klasse, manchmal auch in kleineren Gruppen in den einzelnen Fächern. Die Lehrer/innen hatten außerdem Telefon- und Teams-Zeiten für persönliche Nachhilfe. Sportunterricht gab es via Seppo-App, bei der sich alle Schüler zu einer bestimmten Uhrzeit mit einem Code einloggten und die Lehrerin am Bildschirm sah, ob sich auch alle vom Fleck bewegten – das funktioniert allerdings nur im Freien. Die Lehrer waren sehr kreativ, und es gab viele „nette“ Aufgaben, wie etwa den Frühjahrscheck am Fahrrad in Werken, einen Kuchen backen in Hauswirtschaft oder den Kleiderschrank ausmisten für das Fach Handarbeit.
Franz V., 14 Jahre, geht in die 8. Klasse und hatte so gut wie jede Stunde Live und Online über Teams. Am Anfang der Stunde öffnete sich die Aufgabe und bis Ende der Stunde mussten die fertigen Aufgaben hochgeladen werden. Über Video, Chat oder Anrufe vergewisserte sich die Lehrkraft von Zeit zu Zeit, dass der Schüler nicht nur online, sondern auch bei der Sache war. Tests wurden über Teams in einer vorgegebenen Zeit geschrieben, wenn sichergestellt werden sollte, dass der Schüler keine Hilfsmittel benutzte, blieb die Videoverbindung angeschaltet. Franz V. fand den Fernunterricht „besser als normalen Unterricht, weil es ruhiger ist und nicht so laut“, und weil man „nicht in der Schule sitzen musste“. Die geplante Schulfahrt zur Partnerschule in Celle ist leider ausgefallen. Seine Konfirmation wurde auf den Herbst verschoben. Ansonsten ist in der Corona-Zeit „nicht viel passiert“ und seine Freunde hat Franz über Video getroffen.
Ende April beschloss die Regierung Finnlands, die Schulen für die letzten zwei Schulwochen ab dem 14. Mai wieder zu öffnen. Die finnischen Lehrer, die über Nacht zum digitalen Unterricht übergegangen und vielstimmig gelobt worden sind, hatten nun gar keinen Entscheidungsspielraum mehr. War ursprünglich die Rede vom „gestaffelten“ Schulbeginn, sah die Wirklichkeit ganz anders aus: Alle Schüler von der 1. bis zur 9. Klasse hatten für die verbleibenden elf Schultage wieder Unterricht und zwar gleichzeitig, die Klassen wurden nicht geteilt. Um den Kontakt unter den Schülern verschiedener Klassen zu vermeiden, wurden die Pausen reduziert und nur eine Klasse auf einmal ging zum Mittagessen. Von der 1. bis zur 6. Klasse unterrichtete die Klassenlehrerin alle Stunden. In der 7. bis 9. Klasse hatten die Schüler Fachunterricht, aber nicht die Schüler, sondern die Lehrer wechselten die Klasse, und die Schüler einer Klasse bleiben den ganzen Tag in einem Klassenraum.
Kunst-, Musik-, Sport- und Werkunterricht war nur unter der Voraussetzung möglich, dass keine gemeinsamen Geräte und Materialien benutzt wurden. Bei jedem Betreten und Verlassen des Klassenraums mussten die Hände gewaschen werden, aber Fenster wurden keine geöffnet.
Etwa jedes sechste Kind blieb weiterhin zu Hause, hatte aber jetzt keinen Fernunterricht mehr, sondern Hausunterricht. Waren die Wilma-Nachrichten früher täglich eine bis zwei A4-Seiten lang und mit ausführlichen Instruktionen für jede Stunde (sowie Angaben, bis wann die Arbeit erledigt und hochgeladen sein musste), beschränkte sich die Information der Lehrerin von Anna J. dann auf wenige Zeilen für eine Woche (!): Mathe – Buch zu Ende, Sachkunde: Kapitel 18 und 19, Geschichte: Wikinger! Die Kontrolle, ob und wie das Kind arbeitete, oblag nicht mehr den Lehrern, sondern den Eltern. Sport-, Handarbeits-, Musikaufgaben gab es keine mehr.
Corona-Informationen werden von den Kommunen in vielen Sprachen zur Verfügung gestellt. Neben Finnisch, Schwedisch und Englisch sind das auch Arabisch, Albanisch, Bengali, Bosnisch, Chinesisch, Dari, Estnisch, Französisch, Nordkurdisch, Persisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Somali, Spanisch, Swahili, Tigrinisch, Thailändisch und Vietnamesisch. Die Stadt Turku hat zum Beginn der Pandemie Mitte März eine Corona-Information in 18 Sprachen an alle Eltern verschickt.
Gymnasien, Berufsschulen, Universitäten und Volkshochschulen, die ebenfalls ab dem 18. März geschlossen waren, blieb es freigestellt, ab dem 14. Mai zum Nahunterricht überzugehen – die meisten blieben allerdings geschlossen. Die Universitäten haben bereits für die erste Periode des Herbstsemesters September-Oktober 2020 angekündigt, weiter nur online zu unterrichten.
Freizeit mit Corona
Bereits am Freitag, dem 13. März, also wenige Tage vor den Schulschließungen, wurden auch alle Sportstätten, Museen und Bibliotheken geschlossen. Finnland zählte zu diesem Zeitpunkt 268 bestätigte Coronafälle, die meisten davon in der Hauptstadtregion. Folgerichtig wurde die Region Helsinki/Uusimaa vom 28. März (1.399 Coronafälle) bis 15. April (3.680 Coronafälle im ganzen Land, davon 2.374 in der Region Uusimaa) von Polizei und Armee abgeriegelt. Geschäfte und Einkaufszentren waren in Finnland von keinen Schließungen betroffen, aber viele – vor allem kleinere – haben aber ihren Onlinehandel ausgeweitet und in der Anfangszeit der „freiwilligen sozialen Isolation“ für zwei bis drei Wochen geschlossen. Restaurants und Cafés durften im Zeitraum 30. März bis 31. Mai nur außer Haus verkaufen. Finnische Jugendliche konnten zweieinhalb Monate lang nicht zum Schwimmtraining gehen – aber ihre Eltern ins Fitnessstudiol. Sie durften nicht ins Kino oder in die Bibliothek, nicht zum Fußball-, Eishockey- oder Floorball-Training, aber ihre Eltern zur Massage, zum Physiotherapeuten oder Friseur. Ostern ohne Großeltern, Gottesdienste per Youtube-Kanal, Erster Maifeiertag „Vappu“ ohne Jahrmarkt oder Picknick im Park – das war das Corona-Frühjahr.
Menschen ab 70 Jahren waren zu einer häuslichen Quarantäne aufgefordert und sollten jegliche sozialen Kontakte vermeiden. Die Lockerungen ab Mitte Mai ermöglichten ihnen wieder Spaziergänge an der frischen Luft und Treffen mit Angehörige im Freien mit zwei Metern Abstand. Besuche in Krankenhäusern und Pflegeheimen sind seit März und bis auf weiteres untersagt. Ab Juni sind privat oder öffentliche Treffen wieder mit bis zu 50 Personen gestattet, ab Juli auch Outdoor-Veranstaltungen mit über 500 Personen.
Mit Beginn der Sommerferien am 31. Mai wurden die Eishallen, Schwimmbäder und Sportplätze wieder geöffnet, und das Training konnte endlich wieder in der Gruppe (mit beschränkter Teilnehmerzahl) stattfinden. Anna J. (11 J.) war froh, endlich ihre Freundinnen wieder sehen zu können. Kein Klavierunterricht mehr über WhatsApp, kein Ballett-Unterricht über Videos in einer geschlossenen Facebook-Gruppe mehr, kein Off-Ice-Training für das Eiskunstlaufen über Zoom. Mit Beginn der Schulschließungen durfte Anna seitens der Eltern, wie die meisten finnischen Kinder und Jugendlichen, nur noch eine oder zwei Freundinnen und auch das nur draußen treffen. Bis Mitte April waren es aber noch um die Null Grad, so dass sich die Treffen auf eine bis zwei Stunden auf dem Trampolin beschränkten. Seit der Öffnung der Schulen durften sie auch wieder beieinander übernachten und sich gegenseitig besuchen. Die Sportvereine haben ihre Angebote für Juni verlängert und erweitert, so dass die ersten Ferienwochen mit Training im Freien beginnen. 58 Prozent der 11 bis 15-Jährigen ist Mitglied eines Sportvereins (LIITU-Studie). Franz V. (14 J.) trainiert aktiv Basketball und hat in den Sommerferien sechs Mal die Woche Training.
Da die traditionellen Freizeitcamps und Ferienlager aufgrund der Corona-Situation entfallen, bieten die Städte und Gemeinde eine Vielzahl bunter Freizeitmöglichkeiten: Zirkuscamps, Malkurse, Surfkurse, Verkehrsgarten oder Skater-Bahnen. Speziell für Jugendliche gibt es Jugendbegegnungsstätten in sicherer Online-Umgebung (netari.fi) sowie Live-Auftrittsmöglichkeiten mit Stream-Option. Die Jugendzentren haben geöffnet und die Jugendsozialarbeiter sind auch in der Sommerpause per Telefon, E-Mail, WhatsApp, Instagram, Facebook oder persönlich erreichbar. Die Jugendarbeit der Stadt Turku organisiert Online-Spiele und E-Sport-Angebote auch im Netz in Form einer Turku Game Academy. Nach den Museen öffnen Mitte Juni auch Finnlands Zoos und Vergnügungsparks. Das Wetter ist warm wie selten im Juni. Bei Temperaturen um die 25 Grad gibt es mehr als 19 Sonnenstunden. Und am 21. Juni ist Mittsommer.
Text: Anke Michler-Janhunen
- Juni 2020
Informationen zur Autorin
Hallo! Ich bin Anke aus Turku/Finnland und arbeite als Teilzeit-Lehrerin für Deutsch und Übersetzerin für Finnisch. Das Frühjahr 2020 war ausgesprochen sonnig und warm und die Natur ist in Finnland nie weit. Zum Glück gab es keinerlei Ausgangsbeschränkungen in Finnland, so dass ich mich viel im Wald bewegen konnte und die Corona-Krise als weniger beengend empfunden habe. Für die Jugendlichen an meiner Schule und im Umfeld meiner Tochter bedeutete die Corona-Krise vor allem ein Verlagern des Lebens und der sozialen Kontakte in Online-Formate und eine extreme Zunahme der täglichen Bildschirmzeit. Mit einer online Lernenden und einer online Lehrenden ist das WLAN-Datenvolumen unseres drei-Personen-Haushalts von 40 bis 50 auf etwa 170 Gigabyte im Monat gestiegen (Handys nicht mitgezählt, die haben ihr eigenes Internet). Wir Lehrer haben sowohl durch unsere direkten Vorgesetzten als auch die Verantwortlichen in den Städten viel Wertschätzung und konkrete Unterstützung erfahren. In der Stadt Turku gab es wöchentlich eine Online-Personalinformationsstunde mit Fragemöglichkeit sowie ein DigiHelp-Team, das 24/7 zur Verfügung stand und wirklich schnell reagiert hat.