Die „vergessene“ Jugend 2020

Nov 10, 2020 | Aktuelles, Jugend im Shutdown

Ein Plädoyer aus Chemnitz für eine gerechte und krisen-feste Jugendbeteiligung

Wer hat eigentlich in der Coronakrise öffentlich gefragt, wie junge Menschen den neuen Corona-Alltag empfinden? Welche Meinungen, Gefühle oder Ideen waren für sie prägend?

Die Meinung von Kindern „wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.“, so heißt es in Art. 24, Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Aber auch auf nationaler Ebene ist Kinder- und Jugendbeteiligung rein rechtlich fest verankert. Junge Menschen sollen in alle sie betreffenden Entscheidungen eingebunden werden – doch was ist im Jahr 2020 passiert? Jugendliche und junge Erwachsene wurden in den letzten Wochen und Monaten wenig gehört, obwohl sie mitunter mit weitreichenden Herausforderungen konfrontiert waren. Für viele ist der gewohnte Alltag weggebrochen, für ihre Entwicklung wichtige soziale Kontakte und Freiräume waren im Lockdown auf einen Schlag nicht verfügbar und Entscheidungen wurden ohne sie getroffen. In Berichten und politischen Diskussionen über Schule und Unterricht oder der solidarischen Verantwortung einer ganzen Generation zeigte sich, dass über junge Menschen, aber kaum mit ihnen gesprochen und ihren Bedürfnissen wenig Beachtung geschenkt wurde.

Dass Jugendliche aber unbedingt beteiligt werden wollen, ist ein erstes Ergebnis der Studie Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen des Forschungsverbunds Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit. Über 6000 junge Menschen nahmen daran teil und berichteten über ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse. Einige nutzten die Studie auch, um ihren Frust über die fehlende Beteiligung in politischen Entscheidungsprozessen und die Reduzierung auf ihre gesellschaftliche Rolle als Schülerinnen oder Studierende mitzuteilen. Deshalb haben wir vom Netzwerk für Kultur- und Jugendarbeit e.V. in Chemnitz mal nachgefragt und uns nach den Erlebnissen und Meinungen junger Menschen während der Pandemie erkundigt.

Jugend und Corona in Chemnitz – ein Erfahrungsbericht

An einem heißen Sommertag im Juli machen wir uns auf den Weg in die Chemnitzer Innenstadt. Mit Limonade im Gepäck sind wir auf der Suche nach Plätzen, an denen sich Jugendliche im Sommer gern draußen aufhalten. Zunächst sind wir unsicher, ob unser Vorhaben Erfolg haben wird und ob wir aufgeschlossene Jugendliche finden, die mit uns sprechen wollen. Doch sehr schnell wird deutlich, dass die Jugendlichen erfreut darüber sind von uns angesprochen zu werden und ihre Geschichten erzählen können. Die jungen Menschen, die wir an diesem Tag treffen, unterscheiden sich in ihrem Alter, ihrer Schulbildung, ihrem Beruf, ihren Hobbies und ihrer Herkunft. Alle haben den Lockdown in Chemnitz verbracht und für alle ist Corona ein Dauerthema, auch unter Gleichaltrigen. Von allen Befragten hören wir, dass die Einsamkeit während des Lockdowns sehr prägend war. Besonders fehlten Freunde, mit denen man sonst regelmäßig etwas unternehmen, sich sehen und austauschen konnte. Die zahlreichen digitalen Kultur-, Informations- und Kommunikationsangebote konnten da nicht mithalten und wurden von den Jugendlichen nur selten genutzt. Bei vielen machte sich Langeweile breit und auch der Mangel an Privatsphäre aufgrund der engen Wohnsituation war für einige junge Menschen sehr bedrückend.

Neben der normalen Freizeitgestaltung durchkreuzte die Pandemie auch größere Pläne: Der heißersehnte und lang angesparte Sommerurlaub musste verschoben oder abgesagt werden und für manche verzögert sich sogar der Studienstart im Herbst. R. (19) musste ein ganz besonderes Abenteuer unterbrechen: Als die Pandemie Europa erreichte, arbeitete sie gerade als Au-Pair in London. Während die meisten Au-Pairs Großbritannien verließen, entschied sich R. zu bleiben und später nach Deutschland zurück zu kehren, da sie zum Großteil von zu Hause aus arbeiten konnte. Zurück in Deutschland musste sie sich einen neuen Job für die Zeit bis zum Studium suchen – eine schwierige Angelegenheit in Corona-Zeiten. Wir treffen auf eine Gruppe Jugendliche, die die harten Konsequenzen der Kon-taktbeschränkungen hautnah erlebt haben. J. (16) und D. (17) sind gern gemeinsam draußen unterwegs, da sie sich zu Hause langweilen und einsam fühlen. Sie erzählen, dass sie während des Lockdowns im Freien regelmäßig von der Polizei kontrolliert wurden. D. erhielt vier polizeiliche Verwarnungen. Auf die Frage, wieso sie denken so oft kontrolliert worden zu sein, reagieren sie ohne zu zögern: „Aufgrund unserer Herkunft! Wir haben oft Probleme mit unserer Hautfarbe. Wir wurden schon ein paar Mal angegriffen, auch einmal mit dem Messer.“ Nebenan sitzt C. (25) mit einer Freundin (24). Für sie hat sich in den letzten Monaten nicht viel verändert. Beide haben ihre Jobs behalten und viel Sport im Freien gemacht.

Obwohl es ihnen persönlich gut ging, ist ihnen dennoch eine Veränderung aufgefallen, an der sie sich stören: Die Diskussionskultur innerhalb der Gesellschaft habe gelitten, mit sachlichen Argumenten käme man nicht mehr weit. C. erklärt, dass er kein Verständnis für rechte Verschwörungsideologien und populistische Fake News habe. Auch die bundesweiten „Hygienedemos“ und „Anti-Corona-Proteste“, die auch in Chemnitz stattgefunden haben, betrachtet er mit Sorge. Er engagiert sich nicht aktiv politisch, aber er versucht in seinem Radsportverein eine „vernünftige“ Stimme zu sein, wie er sagt. Es sei deprimierend der Einzige zu sein, der Aussagen wie „Die Regierung legt uns doch einen Maulkorb an!“ etwas entgegensetzt. Alle jungen Menschen, mit denen wir sprechen, sind sich einig: Eine Maske zu tragen und solidarisch miteinander umzugehen, gerade in diesen schweren Zeiten, ist wichtig und wertvoll. So unterschiedlich die Lebensrealitäten der jungen Menschen auch sind, sie sind nicht nur an ihrer persönlichen Situation interessiert, sondern verfolgen die gesamtgesellschaftliche Lage auf der Welt und sorgen sich um ihre Mitmenschen. In ihren Erfahrungen zeigt sich jedoch deutlich, dass junge Menschen nicht als eine homogene Gruppe betrachtet werden dürfen – sie machen unterschiedliche Erfahrungen und haben diverse Meinungen, die unbedingt gehört werden müssen!

Jugendbeteiligung in der Coronakrise: dranbleiben!

Jugendliche freuen sich, gefragt zu werden und endlich ein Sprachrohr für ihre Anliegen zu haben. Jugendbeteiligung ist gewünscht, aber die Coronakrise hat gezeigt, dass sie in unserer Gesellschaft weder fest verankert noch krisenfest ist. Doch Jugendbeteiligung sollte nicht nur ein nettes Accessoire unserer Demokratie sein, sondern insbesondere in Krisenzeiten genutzt und als Chance für ein gesundes und solidarisches Miteinander in unserer Gesellschaft angesehen werden. Jetzt – in einer Situation, in der Deutschland kurz vor einem zweiten Lockdown steht – soll dieser Bericht nachdrücklich auf die Relevanz von Jugendbeteiligung hinweisen. Die Corona-Krise rechtfertigt ein „Hintenanstellen“ der Meinung von jungen Menschen in keiner Weise, denn gerade jetzt müssen Interessen von Jugendlichen mitgedacht werden! Nun liegt es an Vertreterinnen aus Politik, Verwaltung und Jugendarbeit ein offenes Ohr zu haben und Möglichkeiten zur Mitsprache zu schaffen. Jugendliche wurden während des Lockdowns schon einmal vergessen – ziehen wir unsere Lehren daraus und machen es zukünftig besser! Denn: Die Jugend von heute ist die Zukunft von morgen!

Ein Text von Juliane Roubal, Julia Palarz und Tina Kilian.
Netzwerk für Kultur- und Jugendarbeit e. V.
Moritzstraße 19
09111 Chemnitz

10. November 2020

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