Deutschlands Jugend im Dauerkrisen-Modus

Mai 3, 2022 | Aktuelles, Jugendpolitik, Literatur

Ergebnisse der jüngsten Trendstudie „Jugend in Deutschland – Sommer 2022“

Krieg, Corona – die Überlagerung von Krisen strapaziert die psychische Gesundheit von immer mehr Angehörigen der jungen Generation. Das zeigt die aktuelle Trendstudie „Jugend in Deutschland“. Sie beruht auf einer repräsentativen Befragung von 14- bis 29-Jährigen, die von den Jugendforschern Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann geleitet wird. Wegen der weiter spürbaren Einschränkungen durch die Pandemie beklagen die Befragten den Kontrollverlust bei ihrer Alltagsgestaltung, ihren persönlichen Beziehungen und ihrer Bildungs- sowie Berufslaufbahn. Ihre größten Zukunftssorgen sind die Auswirkungen des Klimawandels und seit Ende Februar 2022 zusätzlich die Konsequenzen des Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine.

„Seit über 20 Jahren befindet sich die Jugend in Deutschland im Krisenmodus. Die Älteren der heutigen Jugend haben die Wirtschaftskrise von 2008 erlebt und wurden mit dem GAU des Atomkraftwerks in Fukushima 2011 konfrontiert. Die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 erlebten viele Jugendliche als einschneidend, weil ihnen klar wurde, wie sehr sich die Krisen der Welt auf ihr Leben in Deutschland auswirken. Seit 2018 treibt sie die Sorge vor den Folgen des Klimawandels um, mit dem Frühjahr 2020 kamen die Umbrüche und Unsicherheit aufgrund der Corona-Pandemie und jetzt kommt auch noch die Kriegsangst dazu“, resümiert Simon Schnetzer. Die Sorge vor einem Krieg in Europa ist sprunghaft an die erste Stelle aller Ängste sowie Befürchtungen getreten und hat geradezu einen Schock ausgelöst. Kriegsangst hat die bisher dominierende Angst vor dem Klimawandel verdrängt. Auch die nach wie vor sehr hohen Belastungen durch die Corona-Pandemie wurden in den Hintergrund geschoben.

Autoren der Studie: Simon Schnetzer (links), Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann (rechts)
Foto: Marc-Steffen Unger

„Die dichte Aufeinanderfolge von tief in das Leben eingreifenden Krisen setzt der Jugend zu. Nach zwei Jahren Einschränkungen ihres privaten und schulisch-beruflichen Alltags durch die Pandemie sind viele von ihnen psychisch angespannt. Die Bedrohung durch einen Krieg in Europa drückt als eine weitere schwere emotionale Last auf ihre Stimmung. Viele machen sich große Sorgen um ihre berufliche, finanzielle und wirtschaftliche Zukunft“ so Klaus Hurrelmann.

Wie die Studienergebnisse belegen, ist dennoch die Grundstimmung in der jungen Generation erstaunlich positiv. Das in dieser Studie zum ersten Mal eingesetzte Datajockey-Jugendbarometer zeigt, dass die meisten Befragten für sich persönlich trotz aller Belastungen eine gute Zukunft erwarten. Klar erkennbar ist jedoch die innere Unruhe: Die Zufriedenheit mit der eigenen psychischen Gesundheit ist vergleichsweise niedrig, sowohl aktuell als auch im Blick auf die Zukunft in zwei Jahren. Auch die pessimistischen Töne bei der Einschätzung der Zufriedenheit mit der finanziellen Lage klingen mit.

Große Gruppen in der jungen Generation sind also angespannt. Wird im Zusammenhang mit den konkreten Belastungen durch die Corona-Pandemie oder der Bedrohung durch den Angriffskrieg auf die Ukraine gezielt nachgefragt, offenbart sich unter der Oberfläche eines grundsätzlichen „jugendtypischen Optimismus“ ein beträchtliches Ausmaß von Verunsicherung. Obwohl sich die meisten zutrauen, trotz widriger Umstände das eigene Leben in den Griff zu bekommen, sehen sie im Blick auf die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands erhebliche Probleme. „Diese negativen Ausschläge des Datajockey Jugendbarometers werten wir als Anzeichen dafür, dass die bisher grundsätzlich gute Stimmung unter dem Druck der sich überlagernden Krisensituationen zu bröckeln beginnt“ so die Studienautoren.

Ergebnisse der Trendstudie im Einzelnen

Der Krieg in Europa (68%) ist aktuell die größte Sorge junger Menschen in Deutschland, weil er alle Zukunftsaussichten der Jugend infrage stellt und ihr bisheriges Sicherheitsgefühl zerstört. 46% haben große Angst, dass der Krieg in der Ukraine sich auf ganz Europa ausweiten könnte. Die Sorgen wegen des Klimawandels (55%), der Inflation (46%) und der Spaltung der Gesellschaft (40%) werden dadurch nicht weniger; die hohen Werte sind im Vergleich zur letzten Trendstudie vor sechs Monaten konstant. Trotz der großen Kriegsangst gibt es eine eher zurückhaltende Zustimmung zu politischen Maßnahmen, um Russland zu sanktionieren und die Abwehrkräfte zu stärken. So befürworten nur 58% umfassende Sanktionen gegen Russland, 43% die Erhöhung von Militärausgaben der Bundesregierung und 37% Waffenlieferungen an die Ukraine. „Die jungen Menschen in Deutschland sind nicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorbereitet und stehen auch einer Wiedereinführung des Wehrdienstes sehr zurückhaltend gegenüber“, erläutert Klaus Hurrelmann. „Doch es können sich auch 4% der unter 18-Jährigen vorstellen, nach Abschluss der Schulzeit sich bei der Bundeswehr oder bei einem Freiwilligendienst zu bewerben“.

Auf die parteipolitischen Präferenzen haben die Krisenerlebnisse bisher keine großen Auswirkungen: Weiterhin stehen DIE GRÜNEN mit 19% und die FDP mit 13% in der Gunst der unter 30-Jährigen an der Spitze der Beliebtheit.

Cover: Jugend in Deutschland

Schon in der vorigen Befragung wurde deutlich, wie sehr die Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Corona-Pandemie das Lebensgefühl der jungen Leute beeinträchtigen. Die Hoffnung vom vergangenen Winter, dass die Pandemie zu Ende sein könnte, hat sich nicht erfüllt. Dadurch hat sich die Lebenssituation der jungen Menschen wieder verschlechtert. Das gilt vor allem für die Einschätzung der psychischen Gesundheit, das Gefühl, das eigene Leben kontrollieren zu können und die Beziehungen zu den Freund*innen. Somit zählen die Angehörigen der jungen Generation gesundheitspolitisch zum „Team Vorsicht“: Sie sind in ihrer Mehrheit bereit, die Hygienemaßnahmen weiter zu befolgen und Rücksicht auf vulnerable Bevölkerungsgruppen zu nehmen. Nach eigenen Angaben sind sie zu 84% vollständig geimpft, was deutlich über dem Durchschnitt in der Gesamtbevölkerung liegt (76%). Die Mehrheit ist der Auffassung, die Lockerungen sollten nicht pauschal, sondern mit großem Außenmaß durchgeführt werden. Insgesamt herrscht die Meinung vor, dass sowohl ein aktueller Test als auch eine Impfung die größte Sicherheit vor einer Infektion bietet.

Schon die vorangegangenen Trendstudien hatten gezeigt, dass sich die psychische Gesundheit in der jungen Generation verschlechtert. Eine genauere Analyse zeigt: Die drei am häufigsten berichteten Belastungen sind Stress (45%), Antriebslosigkeit (35%) und Erschöpfung (32%). Erschreckende 27% berichten eine Depression, 13% Hilflosigkeit und 7% Suizidgedanken. Viele wünschen sich mehr professionelle Unterstützung und Hilfe zur Stressbewältigung, auch direkt im schulischen Raum.

Die Balance von Arbeit und Freizeit schiebt sich mit 88% an die Spitze des Gute-Arbeit-Rankings und löst den langjährigen Spitzenreiter Arbeitsatmosphäre (87%) ab. Auffällig ist die geringe Nachfrage der Jungen nach der Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten. Die jungen Leute bevorzugen es, am Arbeitsplatz tätig zu sein. „Die Auswirkungen der Krisen erfordern ein klares Umdenken von Arbeitgebern, wenn sie junge Mitarbeitende finden und binden wollen“, interpretiert Simon Schnetzer die Ergebnisse. Eine erhebliche Veränderung beobachten die Jugendforscher bei der Einstellung zur Leistungsmotivation: Geld (57%) überholt Spaß (45%) als wichtigsten Leistungsmotivator. Die Gründe dafür sehen die Studienautoren in den krisenbedingten wirtschaftlichen Zukunftssorgen. Beim Übergang ins Berufsleben verliert die traditionelle berufliche Ausbildung immer mehr an Attraktivität, sodass ein (duales) Studium inzwischen deutlich bevorzugt wird.

Beitragsfoto: Ausschnitt aus dem aktuellen Buchcover „Jugend in Deutschland“

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