Logbuch des Lockdowns

Jul 6, 2020 | Aktuelles, Jugend im Shutdown

Rayen (10) aus Hamburg schrieb über seinen Alltag auf Abstand


„Wann geht Corina wieder weg?“ Seine Oma Habiba hatte laut gedacht, ihr Versprecher den Enkel erst zum Lachen – dann zum Schreiben gebracht. Das Covid 19-Virus ist zum Thema in Rayens Tagebuch geworden. Von Mitte März bis Ende Mai verarbeitete er auf diese Weise die Einschränkungen durch die Pandemie. Die regelmäßigen Einträge halfen dem Zehnjährigen, eine Struktur im Alltag zu behalten, während die Schule und das Basketballtraining ausfielen, die Bibliotheken geschlossen waren und er seine Freunde nicht treffen konnte. „Ich habe mich gar nicht gut gefühlt“, sagt der Junge über die Wochen im Shutdown. Der Viertklässler ging zwar in die Notbetreuung, vermisste den Schulalltag aber sehr. Seit sechs Wochen findet sein Leben endlich wieder in gewohnter Weise statt. Bis nach den Ferien will Rayen das handschriftliche Tagebuch per Computer abgetippt haben – um dann vielleicht ein zweites anzufangen.

Das aufwändig gestaltete Original ist schwer toppen. Zeitungsschnipsel und Zeichnungen ergänzen die Tagebucheinträge. Da sagt beispielsweise Cristiano Ronaldo dem Virus den Kampf an und setzt zum Schuss an, um den Erreger vom Platz zu befördern. Der Fußballstar war Rayen aufgefallen, „weil er sich während der Pandemie für die betroffene Bevölkerung seiner Heimat Portugal eingesetzt und Krankenhäuser finanziell unterstützt hatte.“ Jeden Tag verfolgte der Junge die Nachrichten und griff Themen auf. Meldungen von weit her, etwa, dass die Autoren der US-Comicserie „Die Simpsons“ die Ausbreitung des Virus angeblich vorhergesagt hatten, als auch Ereignisse in seiner Heimatstadt wie den Futter-Engpass in Hagenbecks Tierpark und die Hamsterkäufe der Bevölkerung. Auf einer Zeichnung überreicht der Osterhase im Jahr 2020 statt gefärbter Eier Klopapier mit Schleife drum.

Rayen schreibt Tagebuch
Rayen legt mit seinem Tagebuch eine ganz persönliche Dokumentation der Corona-Krise an.

Ein Ringbuch, auf dessen Titel sich die Helden der Marvel Comics in 3D tummeln, hat Rayen gewählt, um den Shutdown aus seiner Sicht zu dokumentieren. Seine Aufzeichnungen beginnen am 19. März, in der Woche, in der bundesweit alle Schulen geschlossen wurden. Er notiert, wie sich Familien zu Hause beschäftigten, mit Yoga, Putzen, Lesen, Gartenarbeit. Er hält fest, wie er Abstand zu Oma Habiba hält, und wie sie unter ihrer Schutzmaske grinst. „Dabei war ihr mit Beginn des Stillstands zunächst nicht nach Lachen zumute“, erzählt Rayen, „sie hat nämlich durch Corona ihren Job in der Gastronomie verloren.“
Die Folgen der Schließungen sind offensichtlich: Auf der Zeichnung, die den Tagebucheintrag über den Neubeginn des Schulunterrichts nach wochenlanger Pause illustriert, sieht der Lehrer fragend zu einen Schüler. In dessen Sprechblase steht: „Playstation!“ Rayen deutet damit an, dass sich seine Altersgruppe während der Ausgangssperre häufig mit der Spielekonsole beholfen hat. Das Problem greift die Skizze auf: Die Matheformel an der Tafel bleibt ungelöst. Ein paar Seiten weiter sind die Tische im China-Restaurant unbesetzt, trotz eingehaltener Abstandsregeln zögern die Gäste. Das Lokal heißt „Wuhan“, wie die Provinz, in der das Virus zuerst ausbrach.

Weil die Menschen deutlich seltener vor die Tür gehen, kaum Reisen und in der Öffentlichkeit Schutzmasken tragen, lässt Rayen das Virus ein gefrustetes Gesicht ziehen. Zu Wort kommt es nicht. Anders sein Mitschüler Jonas, der nach einem Covid 19-Verdachtsfall im Bekanntenkreis zwei Wochen in Quarantäne verbringen musste. Dann kam die Entwarnung: Von ihm ging keine Ansteckungsgefahr aus. Zurück in der Notbetreuung, hat Rayen Jonas interviewt und erfuhr, wie belastend die Quarantäne gewesen ist. Auch das ist nun im Tagebuch nachzulesen.


Text: Dr. Tanja Kasischke

  1. Juli 2020

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