HIV und Aids sind noch immer nicht heilbar – aber ein Leben mit HIV ist möglich

Okt 6, 2021 | Aktuelles, Jugendpolitik

Interview mit Dr. Kristel Degener und Prof. Dr. Hendrik Streeck von der Deutschen AIDS-Stiftung

HIV – das nicht mit Aids verwechselt werden sollte – ist auch nach 40 Jahren eine der verheerendsten Pandemien der Neuzeit: Jedes Jahr sterben daran rund 700.000 Menschen, 38 Millionen Menschen leben weltweit mit HIV, 7,1 Millionen Menschen wissen weltweit nicht, dass sie HIV-positiv sind. Andererseits gibt es inzwischen sehr gute Medikamente, die ein gutes und langes Leben mit HIV ermöglichen. Gründe genug also, um mit Experten zu sprechen, die sich seit vielen Jahren in der Deutschen AIDS-Stiftung engagieren. Im Virologischen Institut der Bonner Uni-Klinik haben wir uns mit der Geschäftsführenden Vorstandsvorsitzenden der Deutschen AIDS-Stiftung Dr. Kristel Degener und mit dem Vorsitzenden des Kuratoriums der Deutschen AIDS-Stiftung Prof. Dr. Hendrik Streeck zum Interview getroffen.

PNJ: 38 Millionen Menschen leben weltweit mit HIV und 7,1 Millionen Menschen wissen weltweit nicht, dass sie HIV-positiv sind. Können Sie uns ein paar Zahlen für Deutschland nennen?
Prof. Streeck: Wir haben derzeit rund 90.000 Infizierte in Deutschland. Und es wird geschätzt, dass rund 11.000 Menschen nichts von ihrer Infektion wissen.

PNJ: Menschen mit HIV-Diagnose können heute dank guter Medikamente so lange leben wie Menschen ohne HIV. Also alles gut, und man muss sich keine Sorgen machen?
Dr. Degener: Menschen können mit HIV gut leben, weil es sehr gute Therapiemöglichkeiten gibt. Aber wichtig ist, dass man überhaupt erst mal in Therapie kommt, dass es ausreichende Testungsmöglichkeiten gibt. Und dann gibt es die Menschen, die sich in früheren Jahren infiziert haben und jetzt in Langzeittherapie sind – sie haben meist ein geschwächtes Immunsystem und damit auch andere Krankheiten.
Prof. Streeck: Der Erfolg der Medikamentenforschung in den letzten 40 Jahren ist enorm. Jemand, bei dem früh die HIV Infektion erkannt wurde und dann richtig therapiert wird, hat eine Lebenserwartung wie ein Mensch ohne HIV. Aber mit den Einschränkungen, dass er jeden Tag Medikamente nehmen muss, was auch psychologische Auswirkungen hat und in einigen Ländern auch finanziell eine Herausforderung ist. Es gibt also Einschränkungen in der Lebensqualität.

PNJ: Ist eine mögliche HIV-Infektion heute auf dem Schirm von jungen Menschen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen? Genügt die Aufklärung?
Dr. Degener: Jede Generation muss neu aufgeklärt werden – über HIV und über die anderen sexuell übertragbaren Infektionen.
Prof. Streeck: Ein HIV-Positiver, der gut behandelt ist, kann das Virus nicht weitergeben. Das wissen immer noch viel zu Wenige. Und Berührungsängste muss niemand haben.

PNJ: Apropos Aufklärung: Dafür sind Sie in der AIDS-Stiftung zwar nicht zuständig – das macht vor allem die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Aber sind Sie zufrieden mit dem Wissensstand der Menschen über HIV und AIDS?
Dr. Degener: Eine aktuelle Studie zeigt, dass HIV-Positive immer noch Ausgrenzungen beklagen. In der Bevölkerung, aber auch im Gesundheitswesen ist das Wissen noch nicht ausreichend. Deshalb haben wir als Stiftung in den letzten Jahren vermehrt Projekte zur Aufklärung unterstützt.

PNJ: Woran liegt es, dass Wissenschaftler weltweit seit 30 Jahren zu HIV forschen aber noch kein Impfstoff vorliegt?
Prof. Streeck: Das hat natürlich viele Gründe. HIV ist ein komplexes Virus und sehr viel schwieriger anzugreifen als zum Beispiel das Coronavirus. Es gibt aber auch andere – eher politische – Gründe. Die Corona-Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt: Wenn ein politischer Wille da ist, dann sind auch die Gelder da, um die Impfstoffentwicklung voranzutreiben. Es gibt gegen Corona bereits 8 lizenzierte Impfstoffe und über 30 wurden in der letzten Phase 3 innerhalb des letzten Jahres getestet. Bei HIV haben wir nur 8 Impfstoffe in 36 Jahren in die Phase 3 gebracht. Es liegt daher weniger an der Forschung selbst, sondern an den fehlenden Geldern. Es gibt auch kaum noch Pharmafirmen, die in diesem Bereich forschen, da das Risiko, dass es nicht funktioniert bei fehlender Subvention zu hoch ist.

PNJ: Wie leben HIV-positive Menschen heute in Deutschland? Geht das Stigma in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch in Richtung körperliche Ablehnung?
Dr. Degener: Viele HIV-positive Menschen, die wir kennen, ziehen sich aus Angst vor Stigmatisierung zurück und leben sehr einsam. Um diese Menschen in schwierigen Lebenslagen kümmern wir uns als Stiftung vor allem.

PNJ: Ihre Stiftung fördert Projekte, die die Gesundheit von HIV-positiven Menschen erhalten – was heißt das konkret?
Dr. Degener: Die Therapie ist oft zu wenig. Es können psychische und wirtschaftliche Probleme entstehen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen zu Frühstückstreffen kommen können, dass sie Ausflüge machen, dass sie Sport machen und aus ihrer Isolation heraus gebracht werden. Wenn Körper und Seele stark sind, können sie vielleicht sogar wieder ins Berufsleben zurück kehren.

PNJ: Die Deutsche AIDS-Stiftung fördert vor allem auch Projekte für Frauen. Worum geht es da genau?
Dr. Degener: In Deutschland sind rund 20 Prozent der Infizierten Frauen. Aber bei unseren Förderzahlen sind es über 50 Prozent. Das liegt auch daran, dass Frauen oft alleinerziehend sind, weniger Geld haben und deshalb auf Unterstützung angewiesen sind. Und dann haben wir jährliche Weihnachtsbeihilfen, die vor allem Frauen beantragen, damit ihre Kinder ein schönes Weihnachtsfest haben.

PNJ: Wir wissen inzwischen – auch dank Ihrer unermüdlichen Mahnungen – wie wichtig Testungen bei Corona sind. Wie wichtig sind Testungen für HIV-Risikogruppen, und wer zählt überhaupt zur Risikogruppe?
Dr. Degener: Testungen sind sehr wichtig, damit Menschen rechtzeitig mit der Therapie beginnen können.
Prof. Streeck: Es geht sogar noch weiter: Wenn man zu spät mit einer antiretroviralen Therapie anfängt, sich zu therapieren, dann lässt sich das Immunsystem nicht mehr auf den ursprünglichen Zustand zurückbringen. Es entsteht durch die Infektion eine „Narbe“ im Immunsystem, die dann irgendwann auch auf die Lebenserwartung geht. Das ist wie ein Messer, das durchs Immunsystem fährt und immer mehr kaputt macht. Daher ist die frühe Therapie so wichtig.

PNJ: Ist jeder HIV-positive Mensch infektiös?
Prof. Streeck: In der Kommunikation ist sehr wichtig zu unterscheiden: Einerseits kann ein HIV-Positiver, der gut behandelt ist, das Virus nicht mehr weitergeben. Andererseits ist HIV immer noch eine tödliche Krankheit, wenn man sie nicht behandelt.

PNJ: Die Deutsche AIDS-Stiftung gibt es seit 34 Jahren. Was sind Ihre größten Erfolge, und wo sehen sie noch großen Handlungsbedarf?
Dr. Degener: Ein großer Erfolg ist, dass die Stiftung das Thema HIV mit ihren Operngalas und ihren Benefizveranstaltungen in die Mitte der Gesellschaft gebracht hat. Das wollen wir auch in Zukunft tun. Denn das Thema HIV braucht weiterhin viel Aufmerksamkeit.

PNJ: Welche Feststellung ist Ihnen zum Schluss dieses Gespräches noch ganz wichtig?
Prof. Streeck: Ein Problem vieler infektiologischer Erkrankungen ist, dass sie ökonomisch schlechter gestellte Menschen ungleich mehr und ungleich härter treffen als andere. HIV ist am stärksten unter den Menschen verbreitet, die weniger als 2 US-Dollar am Tag zum Leben haben. Das ist nicht nur bei HIV der Fall, sondern auch bei Tuberkulose, Dengue und anderen infektiologischen Erkrankungen. Die Angst vor HIV ist für einige Menschen in der Welt leider Nebensache, da sie zum Beispiel Sex anbieten müssen, um zu Überleben. Es geht dabei um Essen, Versorgung des ersten Kindes oder ähnliches. Das mag man sich gar nicht vorstellen, warum HIV in manchen Situationen gar keine Rolle mehr spielt. Bei der Bekämpfung von Aids geht es eben auch darum, wie wir Armut und soziale Ungleichheit abbauen.

34 Jahre Deutsche AIDS-Stiftung
Die Deutsche AIDS-Stiftung hilft seit ihrer Gründung HIV-positiven und aidskranken Menschen. Besonders benachteiligt sind zum Beispiel langzeitpositive Menschen oder alleinerziehende Mütter. Heute werden besonders Projekte unterstützt, bei denen es um die Integration HIV-positiver Menschen geht, und bei denen die Gesundheit der Menschen im Zentrum steht. Dazu zählen auch Projekte, die sich an geflüchtete Menschen richten, Checkpoints, in denen kostenlose Tests angeboten werden, Aufklärung über HIV und Aids etc.

HIV ist nicht Aids
Bei einem Gespräch über Aids und HIV ist es wichtig zu wissen: Es handelt sich um zwei unterschiedliche Themen, die in einander greifen:
HIV
HIV ist die Abkürzung für „Humanes Immundefizienz-Virus“. Unbehandelt schädigt das Virus auf erhebliche Weise das menschliche Immunsystem. So führt eine Infektion mit HIV ohne Medikamente nach einiger Zeit zu schweren Erkrankungen. Denn das geschädigte Immunsystem kann selbst mit Krankheiten, die für gesunde Menschen harmlos sind, nicht mehr zurechtkommen. Wird die Infektion rechtzeitig erkannt und behandelt, können HIV-positive Menschen heute lange leben. HIV ist inzwischen also behandelbar, aber noch immer nicht heilbar.
Aids
Aids ist die Abkürzung für „Acquired Immune Deficiency Syndrome“, also für eine erworbene Schwäche des Immunsystems. Von Aids spricht man erst, wenn infolge der Infektion mit dem HI-Virus typische Krankheiten, etwa eine bestimmte Form der Lungenentzündung, auftreten. Aids ist nicht heilbar.

Interview: Jörg Wild
Foto Dr. Degener: Barbara Frommann
Foto Prof. Streeck: UKB

Wichtige Termine

  • 20.11.2024 - 26.11.2024
    Informationsreise nach Ägyten

    Wir laden Journalist*innen und Fachkräfte der Jugendhilfe zu einer Informationsreise nach Ägypten ein. Thema des Programms: „Künstliche Intelligenz und Generative KI in der Jugendarbeit und zukünftige Arbeitsplätze in Ägypten“

  • 14.03.2025 - 16.03.2025
    Social-Video-Werkstatt in Berlin

    Unsere Social-Video-Werkstatt für Fachkräfte der Jugendhilfe und Journalist*innen mit Themenschwerpunkt Jugend wird 2025 wieder in Berlin stattfinden.