„Diese Krise lehrt uns, dass das menschliche Leben viel wichtiger ist als die Interessen verschiedener Völker“
Ich bin Hussein Nabil Murtaja, ein Palästinenser mit Wohnsitz in Gaza. Ich habe einen B.A. in Ingenieurwesen und ein Diplom in Unternehmertum und Kleinunternehmen. Ich bin Mitglied des Jugendbeirats von UN-Habitat, der die arabische Region vertritt, und ich arbeite als Exekutivdirektor der Gaza Culture & Development Group. Ich bin auch ein Jugendaktivist, der sich dafür einsetzt, die Stimmen der Jugend zu unterstützen und sie zu motivieren, sich an der Entscheidungsfindung zu beteiligen und unsere Botschaft in die Welt zu tragen. Zur Unterstützung unserer Jugend und für die Übermittlung unserer Botschaften, gründete ich 2008 eine Initiative mit dem Titel „Briefe“. Und ich wurde Sprecher für Konfliktopfer – auch wir wollen die Botschaften gefährdeter Gruppen an Entscheidungszentren auf lokaler und internationaler Ebene übermitteln.
Seit Anfang 2020 und dem Ausbruch des Coronavirus hätte ich mir nie vorstellen können, dass wir uns jemals in einer solchen Situation befinden würden. Dass sich eine Epidemie auf der ganzen Welt ausbreitet, ohne dass wir ein wirksames Medikament oder Heilmittel haben. Corona hat unser Leben völlig verändert. Schulen, Clubs und andere Einrichtungen sind geschlossen, und viele Menschen wurden gebeten, von zu Hause aus zu arbeiten. Es entstand das Gefühl, dass wir uns auf das Unbekannte zubewegen. Niemand kann verstehen, was vor sich geht, denn das Coronavirus hat unser tägliches Leben beeinflusst. Ich habe das Gefühl, dass es zur Pflicht geworden ist, sich zusammenzuschließen, um die Menschheit zu retten, und um eine bessere Zukunft für uns und für künftige Generationen zu finden.
Das Coronavirus hat uns alle in verschiedener Hinsicht beeinflusst, da die Menschen sich nach und nach von anderen Teilen der Gesellschaft ablösten. Persönlich hatte es einen großen Einfluss auf mein Leben, da ich anfing, mir die meiste Zeit Sorgen zu machen. Ich musste zu meinen Familienmitgliedern, insbesondere zu meinen Kindern, Distanz halten. Das ärgert mich sehr, da ich sie nicht umarmen, berühren oder mit ihnen spielen kann. Mit der sozialen Distanzierung fing ich an, mich von meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen sehr abgekoppelt zu fühlen – das ist wirklich nicht einfach, da wir Menschen für den Umgang mit anderen Lebewesen geschaffen wurden.
Reisebeschränkungen und besondere Herausforderungen
Es ist wirklich schwer, all seine Pläne und zukünftigen Familienarrangements neu zu finden. Nach fünf Jahren Abwesenheit hatten wir alle gehofft, dass ich meine Familie in den Vereinigten Arabischen Emiraten besuche kann. Aber leider konnte ich aufgrund von Grenzschließungen nicht reisen. Mir ging es wie tausenden anderen, die die Sommerferien mit ihren im Ausland lebenden Familien verbringen möchten. Das scheiterte entweder an den verhängten Corona-Verfahren und –Maßnahmen, oder es verwandelte sich in einen Alptraum, weil eines der Familienmitglieder mit dem Virus infiziert ist.
Es gab auch negative Auswirkungen auf die Arbeit des Verbandes, in dem ich arbeite, und auf die Dienstleistungen, die wir für gefährdete Gruppen erbringen. Es entstand ein Gefühl der Verzweiflung, weil die Menschen um uns herum glauben, dass wir Lösungen für ihre verschiedenen Probleme finden. Viele von ihnen können nicht einmal mehr ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Es entstehen zunehmende Herausforderungen, denn alles erfordert große Geschicklichkeit und immer mehr Ressourcen, insbesondere angesichts der schwierigen und tragischen Bedingungen im Gazastreifen.
Ein Beispiel: Kürzlich sagte der Nutznießer des Patenschaftsprogramms für Waisenkinder: „Das Leben wird extrem kompliziert und schwierig. Es ist mir eigentlich egal, auch wenn ich während der Abriegelung hierher kommen muss, um eine Art Hilfe zu erhalten. Aber die Hilfeleistung sollte nicht gestoppt oder gestrichen werden – sie ist die einzige Ressource, die uns geblieben ist.“ Glücklicherweise wird das Programm unter Berücksichtigung von Corona-Sonderregeln wieder aktiviert.
Als jemand, der in Gaza lebt, bekam ich große Angst vor der Ausbreitung des Virus, denn hier sind wirksame und schnelle Behandlungen in Gaza kaum möglich. Die Ausbreitung des Coronavirus im Gazastreifen ist eine reale Bedrohung, da aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung und Kontrolle von COVID-19 die Wirtschaft des Gazastreifens zum Erliegen gekommen ist und sich Arbeitslosigkeit und Armut verschlimmern. Auch hier in Gaza leben wir in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt: 1,9 Millionen Menschen leben hier, die meisten davon in Armut und unter beengten Verhältnissen. Die Bewohner von Gaza haben mehr als die meisten anderen Menschen von der Ausbreitung des Coronavirus zu befürchten. Besonders gefährlich macht die Situation, dass die Gelder für viele unserer humanitären Projekte eingefroren wurden. Hinzu kommt, dass wir uns nicht frei bewegen dürfen, was negative Auswirkungen auf unzählige Lebensbereiche hat.
Die Herausforderungen sind groß, da Hochschulabsolventen dringend Fähigkeiten und Erfahrungen im Umgang mit neu entdeckten Fällen und bei der Arbeit während der Krise benötigen. Diesen frischgebackenen Hochschulabsolventen wurden Workshops über Verfahren und Maßnahmen zur Prävention des Coronavirus angeboten. Auffällig bei den Jugendlichen sind ihre Entschlossenheit, ihre Beharrlichkeit und ihr Wunsch, das Coronavirus herauszufordern und zu besiegen. Die Krise zeigt wieder einmal ganz deutlich, dass wir in junge Menschen investieren und ihre Fähigkeiten ausbauen und ihre Energien stärken sollten. Denn sie können schwierige Umstände bewältigen und bekämpfen.
Auf der Arbeitsebene treffen meine Kollegen und ich uns über soziale Medien, damit wir direkten Kontakt vermeiden und uns nicht mit der Krankheit infizieren. Das ist nicht ganz einfach, da wir mit dem Gesundheitssektor im Gaza-Streifen zusammenarbeiten, mit dem wir einzelne Projekte durchführen. Besonders schwierig sind vor-Ort-Besuche zu Überwachungs- und Arbeitszwecken.
Seit Beginn der Krise haben wir mit anderen Organisationen in der arabischen Welt und in Europa kommuniziert, um von ihren Erfahrungen bei der Bewältigung der Krise und der Fortführung der Arbeit zu profitieren. Dies hat sich positiv auf unsere Arbeit ausgewirkt: Wir haben unsere Arbeit gemanagt und organisiert und Präventivmaßnahmen ergriffen.
Hoffnung und Appell
Was mir Hoffnung gibt und mich glücklich macht, ist die Unterstützung von Spendern und Geldgebern. Nur so können wir unsere Arbeit fortsetzen. Diese Unterstützung motiviert uns härter zu arbeiten, und versetzt uns in die Lage, unserer Gemeinschaft trotz der komplizierten und schwierigen Bedingungen im Gazastreifen zu dienen. Das ist nicht einfach, denn wir im Gaza-Streifen unterscheiden uns von anderen Gemeinschaften, da wir uns unter doppelter Abriegelung durch die Belagerung und Covid-19 befinden. Die Bewohner des Gazastreifens leiden unter diesen harten Bedingungen.
Ich hoffe, dass sich die Dinge so bald wie möglich ändern, dass das Leben wieder zur Normalität zurückkehrt. Diese Krise lehrt uns, dass das menschliche Leben viel wichtiger ist als die Interessen verschiedener Völker und Konflikte, zumal wir alle von dieser Epidemie und ihren katastrophalen Folgen für das Leben in allen Aspekten und Bereichen betroffen sind.
Die ganze Welt braucht aufrichtige Bemühungen und Hingabe bei der Bewältigung verschiedener Konflikte. Sie braucht stattdessen die Konzentration auf das, was der Menschheit wichtig ist und ihre Stabilität erhält.
Wir sind heute hier, weil wir uns gegenseitig unterstützen und Erfahrungen austauschen müssen, um die Epidemie und ihre Folgen bekämpfen und besiegen zu können. Deshalb ist dies ein Appell an alle um uns herum, dass unsere Menschlichkeit und das Erreichen von Sicherheit und Gleichheit für alle Gesellschaften der Eckpfeiler für die Kontrolle und Bekämpfung der Corona-Pandemie und jeder Epidemie ist, mit der wir in Zukunft konfrontiert sein könnten.
Text: Hussein Murtaja
Redaktionelle Bearbeitung: Jörg Wild
- Juni 2020