Kinder- und Jugend(hilfe)Monitor
Aktueller „Chancen-Check“ für die „Generation U27“: Die Corona-Pandemie hat die soziale Schieflage bei Kindern, Jugendlichen und Familien in Deutschland drastisch verschlimmert. Sie hat zusätzliche Löcher ins soziale Netz gerissen. Wer in Armut oder mit einer Behinderung aufwächst, den treffen die Folgen der Pandemie besonders hart – so das Fazit einer Expertengruppe der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Sie hat die Chancen und die Risiken, mit denen junge Menschen in der Pandemie aufwachsen, untersucht und dazu den „Deutschen Kinder- und Jugend(hilfe)Monitor 2021“ vorgelegt. Dessen Ergebnisse stellte die AGJ auf einer Pressekonferenz in Berlin vor. Anlass ist der 17. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag (DJHT), den die AGJ in der kommenden Woche (vom 18. bis 20. Mai) als bundesweit größten Branchen-Gipfel der Kinder- und Jugendhilfe von Essen aus organisiert – zum ersten Mal digital. Die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche werden ein Schwerpunkt des DJHT sein. Eine Forderung des DJHT: „Post-Corona-Sonderurlaub“ für Kinder, Jugendliche und deren Eltern.
DJHT-Monitor macht die Dimension, die Armut bei Minderjährigen hat, deutlich: Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf. Mehr als 1,77 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben in einer Hartz-IV-Familie. „Das Fatale ist, dass die soziale Karriereleiter unten keine Sprossen hat. Wer einmal in Armut – von Hartz IV – lebt, der wird das mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent auch in den nächsten fünf Jahren noch tun“, sagt die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ und Leiterin der AGJ-Expertengruppe, Prof. Dr. Karin Böllert. Deutschland habe „ein massives Problem, Kindern und Jugendlichen gleiche Startchancen zu bieten“.
Dies habe sich in den vergangenen Monaten noch verschlimmert: „Die Corona-Pandemie hat Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern mit niedrigen Einkommen deutlich stärker getroffen. Lockdown bedeutet für sie: Leben auf engem Raum, kein digitales Homeschooling, keine Eltern, die im Homeoffice das Lernen intensiv begleiten können“, so Böllert.
Im Fokus der DJHT-Experten: die mehr als 320.000 Unter-25-Jährigen, die schwerbehindert sind. Sie erlebten eine „Härtefall-Situation der Corona-Pandemie“. Ein Großteil von ihnen sei in den vergangenen Monaten von der Außenwelt quasi abgeschnitten. „Man kann auch sagen: weggeschlossen – Familien und Einrichtungen waren im Schutz-Modus. Und das ganz häufig ohne behindertengerechte IT-Technik. Damit waren oft nicht einmal digitale Kontakte mit anderen möglich“, kritisiert Prof. Karin Böllert. Auch viele Behinderteneinrichtungen und Therapieangebote seien geschlossen oder stark eingeschränkt worden. „Dann waren die Eltern mit ihren behinderten Kindern zu Hause – oftmals isoliert, um das Risiko einer Corona-Infektion zu vermeiden“, sagt DJHT-Chefin Böllert. Sie kritisiert in diesem Zusammenhang eine „falsche Impfpriorität“: „Es wird höchste Zeit, dass wir Eltern von behinderten Kindern ein schnelles Impfangebot machen.“
Die Pandemie habe ihre Spuren aber auch in der Mitte der Gesellschaft hinterlassen: Junge Menschen seien verunsichert – 45 Prozent haben Angst vor der Zukunft, so die AGJ. Ein Drittel aller Familien beklagten mittlerweile Geldsorgen – insbesondere Alleinerziehende. Zudem mache es jungen Menschen enorm zu schaffen, quasi „zwangskaserniert“ zu sein: „Keine Klubs, keine Sporthallen, keine Übungsräume für Bandproben… – Die Corona-Pandemie hat gerade Jugendlichen die Orte weggenommen, an denen sie ihr Leben sonst selbst in die Hand genommen haben“, so Karin Böllert. Als Hochschullehrerin am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Friedrich-Wilhelms-Universität Münster warnt sie: „Digital ist nicht sozial.“ Mehr Handy, mehr Tablet, mehr Laptop und PC: „Es gibt immer mehr ‚kalte Kontakte‘. Aber die warmen Begegnungen fehlen“. Ein Drittel der Jugendlichen fühle sich einsam.
Die AGJ spricht sich dafür aus, Kindern, Jugendlichen und Eltern den Ausstieg aus dem Corona-Modus zu erleichtern, sobald dies mit Blick auf das Infektionsgeschehen möglich sei. „Wir brauchen ein ‚Durchatmen für alle‘, ein ‚Kräftetanken für alle‘. Konkret: einen Post-Corona-Sonderurlaub“, so Karin Böllert. Die DJHT-Chefin fordert Urlaubstage und Urlaubsgutscheine als „Dankeschön für das, was Familien in der Pandemie geleistet haben“. Es sei an der Zeit, „Familien für das Durchstehen der Corona-Pandemie jetzt auch ‚seelisch zu impfen‘“. Es geht um zusätzliche Urlaubstage für alle Familien und Urlaubsgutscheine für Familien mit niedrigem Einkommen – für Familien- und Jugendbildungsstätten in Deutschland. Jugendliche sollen dabei auch Gelegenheit bekommen, in Jugendfreizeiten eine „Erwachsenen-freie Zone“ zu erleben. Zur Finanzierung fordert die AGJ einen staatlichen Sonderfonds.
Quelle: AGJ
Beitragsfoto: Emma Bauso auf pexels