Ein Erfahrungsbericht von Lena Gerhard
Der Feminismus überrannte mich wie eine Welle. Er brachte Licht in einer dunklen Zeit, schöpfte neue Hoffnung und inspirierte mich. Genauer gesagt, war sie es, die mich inspirierte – Alice Schwarzer. Heute betrachte ich sie mit kritischem Blick und frage mich, wie sehr sie sich vor allem für junge Frauen einsetzt.
Der Name Alice Schwarzer war mir schon früh bekannt. Ich erinnere mich, dass bereits meine Oma von ihr erzählte. „Die Frau, die für uns Frauen Alles gegeben hat. Ihr verdanken wir so viel, Lena“. Wie viel tatsächlich, war mir damals noch nicht bewusst. Das änderte sich aber, als ich begann, über sie zu lesen. Ich war 22 Jahre alt, studierte im fünften Semester Journalismus in Köln und kam gerade aus einer missbräuchlichen Beziehung: gebrochen und bitterlich enttäuscht von der Liebe. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass da nicht auch ein klitzekleines bisschen Männer-Hass in mir war. Eines nachmittags entschied ich mich in einer Buchhandlung für jenes Buch, welches den Startschuss für meine Feministinnen-Ära setzen sollte: „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ geschrieben von Alice Schwarzer. Und obwohl das Buch in seiner ersten Auflage im Jahr 1975 erschienen war, so hatte ich das Gefühl, dass all die Szenarien, über die Frauen in dem Buch berichteten, auch 45 Jahre später noch relevant waren. Die Kritik am Patriachat und an einer Gesellschaft, die Frauen nur als Objekt der sexuellen Begierde betrachtet. Eine Welt, in der Frauen weniger wert sind als Männer und in der sie sich für alles Mögliche rechtfertigen müssen. „Genau das!“, dachte ich mir. Endlich jemand, der genau das sagte, was ich fühlte. Ich spürte, wie die angestaute Wut in meinem Bauch endlich einen Hafen fand. Ich verschlang jedes einzelne Buch von Schwarzer, verbachte Stunden auf YouTube und schaute mir alte Interviews und Fernsehauftritte von ihr an.
„Alice Schwarzer ist die Frau, die für uns Frauen Alles gegeben hat. Ihr verdanken wir so viel.“
Der Feminismus war aber nicht die einzige Parallele zwischen mir und Alice Schwarzer – auch war ich angehende Journalistin und schwer beeindruckt von ihrem beruflichen Werdegang. Und so war klar, dass ich mich für mein Pflichtpraktikum um einen Platz bei EMMA – dem Frauenverlag von Alice Schwarzer – bewarb, dessen Redaktion nur ein Katzensprung von meiner Wohnung entfernt lag. Mit einer Antwort ließ sich die Redaktion Zeit – zwei Rückfragen und acht Wochen später, im November 2020 wurde mir Hoffnung auf einen Platz gemacht, der dann aber im Januar 2021 auf Grund der Corona-Pandemie letztlich abgesagt wurde. Ich solle mich aber doch gerne melden, wenn ich zu einem späteren Zeitpunkt ein freiwilliges Praktikum machen wollen würde, hieß es in der Absage. Das Ende meines Studiums rückte näher und nun stand die Bachelor-Arbeit an. Auch hier brauchte ich nicht lange nach einem Thema suchen, sondern wusste sofort, was ich untersuchen wollte: den Wandel des feministischen Selbstbilds unter Anbetracht der gesellschaftlichen Entwicklungen, repräsentiert in EMMA. Um diese Frage zu beantworten, musste ich jede einzelne Ausgabe von EMMA seit der Erstausgabe im Jahr 1977 untersuchen.
EMMA erscheint monatlich – 42 Jahre mal zwölf Ausgaben pro Jahr ergeben 504 Hefte. Ich stellte eine Anfrage an die Redaktion, um mir die Magazine im Archiv anschauen zu können und fragte außerdem höflich nach einem Interview mit Alice Schwarzer. Letzteres blieb unbeantwortet, aber im November 2021 durfte ich tatsächlich in den Frauen-Media-Turm kommen. Bei der Gelegenheit nahm ich doch gleich eine neue Bewerbung mit, um mich für ein freiwilliges Praktikum im Anschluss an mein Studium zu bewerben. Mir war bewusst, dass die angebotenen Dreimonats-Praktika in aller Regel unbezahlt sind – doch für meine Traumstelle bei Alice Schwarzer würde ich alles geben. Und wenn das heißen würde, dass ich neben einer 40-Stunden-Woche bei EMMA noch Kellnern und Babysitten müsste, um mich finanziell über Wasser halten zu können, dann sei das so. 504 Hefte und 42 Jahre EMMA später fehlte mir nur noch Eins, um meiner Bachelorarbeit die Krone aufzusetzen – das Interview mit Schwarzer. Sicher hat sich noch nie jemand zuvor die Mühe gemacht, alle Ausgaben von EMMA zu analysieren – meine Chancen auf ein Gespräch dürften nicht allzu schlecht stehen. Dachte ich zumindest.
Im Dezember 2021 stellte ich eine zweite Anfrage per Mail. Erfolglos. Ich versuchte mehrmals, Schwarzer telefonisch zu erreichen. Vergebens. Im Januar 2022 schrieb ich ihr noch einmal und schlug ihr drei konkrete Termine für einen Online-Call vor. Ein Tipp, den mir meine Professorin in der Uni mal gelehrt hatte – einfach einen Termin ansetzen. Ich erschien zu allen drei. Doch ich blieb allein. Nicht mal eine Absage. Meine Bachelorarbeit musste ich ohne Interview abgeben – sah aber im Februar 2022 eine Stellenanzeige als Online-Redakteurin be EMMA. Ich bewarb mich also noch einmal. Aufgeben war keine Option. Doch auch diese Bewerbung blieb unbeantwortet. Ich beendete mein Studium und ging nach Sri Lanka, wo ich meiner Herzensvision nachging und buddhistischen und muslimischen Frauen Englisch unterrichte. Frauen, die in einem Dritte-Welt-Land wenige, bis keine Rechte haben. Die Erfahrungen, die ich dort sammelte, waren magisch. Die Gespräche, die ich führen durfte, was ich über das Frausein lernte und wie sehr ich meine Privilegien in Deutschland zu schätzen wusste. Alice Schwarzer und die EMMA waren nicht vergessen, aber zumindest hatte ich das Gefühl, gerade meinen eigenen Weg gefunden zu haben, mich als Feministin für andere Frauen stark zu machen.
„Ich erschien zu allen drei Terminvorschlägen. Doch ich blieb allein. Nicht mal eine Absage.“
Im September 2022 kam ich zurück nach Köln. Durch einen Zufall sah ich ein Plakat mit Werbung für einen neuen Kinofilm: „Alice Schwarzer“. Und die Premiere mit der Protagonistin Alice Schwarzer vor Ort sollte im Odeon-Kino stattfinden – fünf Minuten Fußweg von meinem Zuhause. „Das kann kein Zufall sein!“, dachte ich. „Das ist meine Chance. Das ist meine Chance, endlich auf die Frau zu treffen, die in den letzten zwei Jahren zu meinem Vorbild Nummer eins geworden war. Und ich könnte ihr meine Bachelorarbeit schenken, die ich hatte drucken und binden lassen. Ich meine, was ein besonderes Geschenk, oder?“ Ich kaufte mir also ein Ticket für die Vorstellung. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich war so, so, so aufgeregt. Schon bei Betreten des Kinos wurde mir klar: Ich bin unter all den älteren Damen mit Abstand die Jüngste. Würde ich Frau Schwarzer schon vor Einlass in den Kinosaal sehen? Wie sollte ich denn auf sie zugehen und was sollte ich am besten sagen? „Ich mach’s spontan!“, sagte ich mir. 100 Minuten Film vergingen wie im Flug. Und dann war er gekommen, der Moment, in dem Alice Schwarzer die Bühne betrat. Sie musste sich am Geländer festhalten, denn mit ihren 81 Jahren ist sie gewiss nicht mehr die Jüngste. Dennoch hatte sie ein Auftreten, was mich staunen ließ. Sie war mutig. Selbstsicher. Bestimmt. Voller Geschichte. Genauso hatte ich mir sie vorgestellt. Nach ihrer Rede wartete ich noch, bis sich der Kinosaal ein wenig leerte. „Ok, jetzt machst du es. Jetzt stehst du auf und gehst zu ihr!“ Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich krallte meine Hände in das Cover meiner Bachelorarbeit. „Entschuldigung, Frau Schwarzer“, stotterte es aus mir heraus. „Ich bin Lena und habe unzählige Male versucht, sie für ein Interview für meine Bachelorarbeit über Ihr Magazin zu erreichen. Ich habe großen Respekt vor Ihnen und vor dem, was Sie für uns Frauen erreicht haben“, erzählte ich weiter. Sie erinnerte sich tatsächlich an mich und meine unzähligen, nervigen Mails. Alles andere hätte mich aber auch stark verwundert. Ich fuhr fort: „Ich würde Ihnen gerne meine Bachelorarbeit schenken und würde mich riesig freuen, wenn ich bei Ihnen ein Praktikum machen dürfte.“ Alice Schwarzer nahm meine Arbeit an und fragte nach meinen Kontaktdaten. Obwohl ich mir dachte, dass sie doch noch ein Dutzend unbeantwortete Mails in ihrem Postfach liegen haben müsste, schrieb ich ihr meine Kontaktdaten natürlich erneut auf. Ich erinnere mich, wie sie sagte: „Ich werde Ihre Arbeit lesen und mich auf jeden Fall bei Ihnen melden.“ Auf. Jeden. Fall. Wir verabschiedeten uns nett und ich rief noch auf dem Weg nach Hause meine Freundin an, um ihr stolz alles zu berichten. „Oh mein Gott, Alice Schwarzer wird meine Bachelorarbeit lesen und sich bei mir melden!“ Dachte ich zumindest.
„Sie war mutig. Selbstsicher. Bestimmt. Voller Geschichte. Genauso hatte ich mir sie vorgestellt.“
Die nächsten Tage, Wochen, Monate wartete ich vergebens auf eine Nachricht oder einen Anruf. Nichts. Vier Monate später – im Januar 2023 – schrieb ich Alice Schwarzer und der EMMA-Redaktion eine letzte Mail mit der freundlichen Aufforderung, mir meine Bachelorarbeit zurückzuschicken. In diese Arbeit hatte ich so viel Zeit und Mühe gesteckt. Sie sollte nicht irgendwo auf einem Schreibtisch zwischen Büchern verstauben, fernab jeglicher Wertschätzung. Noch dazu kostete mich der Druck und die Bindung 75 Euro – nicht wenig Geld für eine Studentin. Bis heute habe ich meine Arbeit nicht zurück.
Alice Schwarzer ist die bekannteste Frauenrechtlerin Deutschlands. Sie hat dafür gesorgt, dass Frauen ein Recht auf Abtreibung haben, startete Anti-Porno-Kampagnen und kämpfte gegen Sexismus im Beruf. Sie machte sich für transsexuelle Menschen stark und ist mit all ihren Taten zweifellos ein Vorbild – ganz besonders für junge Frauen. Doch genau für die scheint Alice Schwarzer keinen Platz zu haben. Genau die, die von ihr lernen wollen, um eines Tages vielleicht in ihre Fußstapfen treten zu können, sind wohl nicht mal eine Antwort wert. Es ist nicht auszuschließen, dass Alice Schwarzer einfach ein persönliches Problem mit mir hatte. Dennoch frage ich mich: Wo sind sie bei EMMA, die neuen, jungen Feministinnen? Wieso besteht die Redaktion ausschließlich aus Damen der älteren Generation? Wieso gibt es keine Angebote für Nachwuchsjournalist:innen, ja gar keine Chance für sie?
„Wo sind sie bei EMMA, die neuen, jungen Feministinnen?“
Es macht den Eindruck, als würden sich Alice Schwarzer und EMMA an nostalgische Erinnerungen klammern und keinen Platz für Nachzügler:innen machen wollen. Hier kommt niemand rein – frischer Wind ist unerwünscht. Alice Schwarzer kommt aus einer Zeit, in der Feministinnen mit ihren sogenannten „Büstenhaltern“ auf die Straße gingen. Heute aber regiert der Free-The-Nipples-Trend und feministische Proteste finden vor allem online auf Social Media Plattformen statt. Die modernen Feministinnen der heutigen Zeit haben andere Wege, um für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen. Und doch glaube ich, dass beide Seiten bei einem generationenverbundenen Austausch so viel hätten voneinander lernen können. Vielleicht sitzen wir irgendwann doch noch an einem Tisch – die Alten und die Jungen, die Hausfrauen und die Karrierefrauen, die alten und die neuen Feministinnen – und realisieren, dass wir gemeinsam noch viel mehr erreichen können.
Lena Gerhard ist freie Jouranlistin. Sie lebt und arbeitet in Köln