„Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht“ von Christoph Schickhardt
Ein Titel, der verrät, worauf man gespannt sein darf: „Nicht systemrelevant – Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht“. Da liegt zweifellos viel Sprengstoff im Thema! Man muss im Vorfeld einer solchen Untersuchung und vor dem Lesen natürlich auch noch einmal die Frage stellen, ob eine superkritische Aufarbeitung der Corona-Politik überhaupt sinnvoll ist. Hinterher sind alle klüger, aber währenddessen waren alle Verantwortlichen Einsteiger, die auf den Rat einiger Experten hören mussten. Aber ja, eine Aufarbeitung ist nötig – und sei es nur, um beim nächsten Mal besser gewappnet zu sein.
Die einzelnen Vorwürfe des Philosophen und in Heidelberg forschenden Kinderethikers Christoph Schickhardt wiegen schwer. Mit am schwersten wohl die schon gleich zu Beginn der Analyse festgestellte Gesamtthese: „In Krisen treten Werte und Prioritäten, aber auch Machtstrukturen einer Gesellschaft besonders deutlich hervor: In Deutschland fanden die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in Politik und Öffentlichkeit lange Zeit kaum Berücksichtigung. Systemrelevant waren andere und anderes.“
Wichtig, das „waren viele Gruppen wie u. a. die Deutsche Fußballliga, die Friseure oder Gastronomen wesentlich wichtiger als die etwa 13,7 Millionen Kinder und Jugendliche“. Friseure und Gastronomen würden rückblickend übrigens dieser These ziemlich heftig widersprechen! Den Grund für die unterschiedliche Gewichtung der Gesellschafsgruppen findet Schickhardt umgehend: „Die für die Corona-Politik Verantwortlichen mussten sich vor den jungen Menschen nicht an den Wahlurnen verantworten, und das wussten sie auch.“ Das „große Maß an fehlender Achtung, Sprach- und Empathielosigkeit“ erklärt dann auch, warum Schulen so lange geschlossen blieben, warum der teilweise katastrophale Distanzunterricht Teil der Corona-Politik war. Und warum ein vielfach völlig ungenügender Schutz vor Kindeswohlgefährdungen und die psychischen Belastungen von Kindern Jugendlichen und ihren Familien hingenommen wurden.
Man kann lang über viele Einzelmaßnahmen und Impfkampagnen sprechen – der Autor tut es auch. Zum Ende hin wird er dann noch einmal sehr deutlich mit seinen Forderungen, die sich auch an die Gruppen richten, die eben systemrelevanter waren als die Kinder und Jugendlichen: „Haben diejenigen Senioren, die auch dank der Corona-Schutzmaßnahmen gesund durch die Pandemie kamen, zuvor reich und nach der Pandemie womöglich noch reicher waren, nicht die moralische Pflicht, den jungen Menschen etwas ‚zurückzugeben‘?“
Es sind solche Aussagen, die dem Buch viel von seiner wissenschaftlichen Neutralität nehmen, die wir erwartet hätten. Die Untersuchung bezieht eindeutig Stellung. Das ist einerseits schön, denn Kinder und Jugendliche haben gerade in Krisenzeiten viel zu oft viel zu wenige Fürsprecher. Andererseits bekommen wir damit wieder einmal eine Meinung vorgesetzt und eben nicht nur eine – gerne auch kritische – Analyse.
Text: Jörg Wild
Beitragsfoto: Rachel Coyne auf unsplash