Collum McCanns dramatischer und intensiver literarischer Blick nach Israel und Palästina
Um es vorweg zu sagen: Apeirogon ist eines der lesenswertesten Bücher, die in den letzten Jahren über das problematische Verhältnis von Israelis und Palästinensern geschrieben wurde. Keine einseitige Stellungnahme, keine Vorverurteilungen, keine Rechtfertigungen. „Nur“ die Geschichte zweier Männer, die sich trotz ihrer unterschiedlichen Schicksale anfreunden und versuchen, das Leben im Nahen Osten erträglicher zu machen.
Wir beschreiben das Buch an dieser Stelle, da Israel auch im 20. Jahr unserer Austauschprogramme eines der wichtigsten Partnerländer des PNJ ist. Weil wir trotz aller historischer Verbundenheit und Verantwortung immer auch den kritischen Blick auf das Land und seine Menschen behalten haben. Und weil uns die Region und ihre Menschen am Herzen liegen.
Der Israeli Rami und der Palästinenser Bassam sind Väter, liebevolle Familienmenschen. Sie sind fleißig, sie mögen ihre Heimat, die sie mit kritischer Zuneigung betrachten. Und sie trauern. Rami hat eine Tochter bei einem Anschlag militanter Palästinenser verloren. Bassams Tochter wurde durch die Kugel aus einem israelischen Militärgewehr getroffen und starb. Zwei von vielen Elternteilen, die ihre Kinder in diesem Jahrzehntelangen Konflikt sterben sahen, und die durch die gleiche Hölle aus Verzweiflung, Trauer und natürlich auch Hass gehen. Die aber auch lernen, dass Hass keine Probleme löst.
Auf 600 Seiten und in vielen, vielen kleinen und längeren Textschnipseln tauchen wir ein in die Seelenlage der beiden Männer und ihrer Familien. Aber auch in den Alltag der Menschen in Palästina und in Israel – mit Straßensperren, Ungleichheiten, Armut, Gewalt, Extremismus und immer auch Hoffnung auf bessere Zeiten.
Und so real wie dieses Leben in seiner historischen Entwicklung ist, so real ist auch das Leben von Bassam Aramin und Rami Elhanan. Menschen im Nahen Osten kennen ihre Gesichter und ihre Geschichten. Autor Collum McCann, der schon viele sehr gute und sehr nachdenkliche Romane geschrieben hat, nimmt uns mit zu den unzähligen Gesprächen, die er mit Rami und Bassam geführt hat und lässt uns teilhaben an ihren Gedanken und an ihrer gemeinsamen Arbeit für Frieden in der Region.
Sie schließen sich einer Organisation namens „Parents Circle“ an, halten Vorträge und reisen durchs Land, um Menschen vom Sinn eines gemeinsamen Kampfes für Frieden zu motivieren. Die Wege zu diesen Treffen sind gefährlich für beide, die Erfolge übersichtlich – aber Bassam und Rami lernen darüber, Frieden mit sich selbst und ihrer Trauer zu finden, und sie sind leuchtende Vorbilder für alle Menschen, die Trauer und Hass in Kampf für Frieden umlenken. Das ist sehr oft bewundernswert und fast übermenschlich – aber das Buch zeigt, dass nur dieser Weg ein richtiger sein kann.
Wenn wir demnächst wieder einmal über Frieden als einen satten Ist-Zustand in einer trägen Gesellschaft sprechen, dann sollten wir uns Rami und Bassam aus „Apeirogon“ vors innere Augen holen und sehen, dass Frieden bedeutet, jeden Tag erneut dafür zu kämpfen.
Apeirogon von Colum McCannVerlag
Rowohlt Buchverlag
608 Seiten
ISBN: 978-3-498-04533-3
Jörg Wild
Beitragsfoto: Jakob Rubner auf unsplash