Der Musiker Manuel Dengler erlebt sein ganz persönliches Corona-Drama
Es ist ein Albtraum: Ein Musiker, der plötzlich nicht mehr „ganz Ohr“ ist, sein Gehör verliert. Manuel Dengler hat genau das vor ein paar Wochen erlebt, ausgerechnet während einer Aufführung zu Ehren Ludwig van Beethovens, in einem Augenblick, da das Orchester, das der 31-Jährige dirigierte, musikalisch Bezug nahm auf die fortschreitende Ertaubung des großen Komponisten. „Da kommen Ohrgeräusche vor, die richtig wehtun“, schildert Manuel Dengler die Atmosphäre im Konzert. Am selben Tag erlitt er einen Hörsturz.
Mittlerweile ist er auf dem Weg der Besserung und sagt: „Das war mein persönlicher Lockdown.“ Vorausgegangen waren nicht nur ein angespanntes Pandemie-Jahr 2020, auch ein dichtes 2019, indem der gebürtige Stuttgarter vor und hinter der Bühne derart viele Initiativen anschob, Aufführungen managte und Kilometer fuhr, dass er heute sagt: „Irgendwann ist die psychische Belastung zu groß geworden.“ Ihn hat Corona gleich doppelt zum Stillstand gebracht – und zum Umdenken: Kultur brauche nach 2020 einen neuen Anspruch, um als „system- und lebensrelevant“ zu gelten. Den, nicht nur Selbstzweck zu sein. In einem Brief, getippt noch im Krankenhaus, denkt Manuel seine Absicht laut.
Liebe Freund*innen,
am 12. November hatte ich einen Hörsturz und liege seitdem mit Hörverlust auf dem rechten Ohr und enormem Schwindel im Krankenhaus. Ich teile euch das nicht mit, um Mitleidspunkte zu sammeln, sondern um zu dokumentieren, was die aktuelle Situation mit Kulturschaffenden wie mir macht.
Mein Gehör ist im Lockdown.
Mein Körper ist im Lockdown.
Mein Geist ist größtenteils im Lockdown.
Mein Lockdown ist eine Welt voll Schwindel und Erschöpfung.
Ich hoffe so sehr, es ist „nur“ ein temporärer Lockdown.
Als Intendant der Brandenburger Festspiele trage ich, zusammen mit meinen Kolleg*innen, nicht nur Verantwortung für mich selbst und meine Existenz, sondern auch für eine Vielzahl von wundervollen Festspiel-Künstler*innen, sowie zahlreichen Dienstleistern, die mehr als nur Peripherie in der Kulturproduktion sind. Unabhängig davon, was man von welchen Maßnahmen halten möchte und welche Forderungen man an politische Ebenen stellt, ist die derzeitige Situation nur schwer ertragbar. Sie ist eine Katastrophe!
Welch‘ Ironie des Schicksals, vergangenen Mittwoch und Donnerstag hatte ich noch das Vergnügen mit dem wundervollen BSOF Brandenburgisches Staatsorchester Frankfurt Christoph Reuters Oratorium „Unerhörte Schönheit“ zum Beethoven-Jahr in Bild und Ton aufzunehmen. Das Werk für Sopran, Bariton, Schauspieler, Chor, Band und Orchester arbeitet mit Originalausschnitten aus Beethoven-Werken und führt durch unzählige Musikstile von Klassik über Neue Musik bis hin zum Hip Hop. Es erzählt die Geschichte von Beethovens Leben und seinem zunehmendem Gehörverlust. Jetzt verstehe ich, was das mit einem Menschen macht. Es ist einfach nur grausam, wenn einem der Sinn genommen wird, der perfekter als bei den meisten Menschen ausgebildet ist und der einem so viele Welten eröffnet. Einen von elf Sätzen, die Nummer sechs, „Heiliger Dankgesang“ habe ich nicht mehr geschafft, für die Aufnahme zu dirigieren – ausgerechnet den Satz, in dem immer wieder Ausschnitte aus der dritten Sinfonie „Eroica“ erklingen, einem meiner absoluten Lieblingswerke.
Beim Musikmachen kehren wir Musiker*innen unser Innenleben nach außen – ohne das kann es uns nicht gelingen, Musik zu transportieren. Wir sind Künstler, weil es nicht nur ein Hobby ist, uns musikalisch mitzuteilen, sondern weil wir den unbändigen Drang dazu verspüren. Doch die Perspektiven hierzu sind derzeit bei allem Ideenreichtum für dringend notwendige neue Formate nicht gut. Ich glaube nicht daran, dass wir in absehbarer Zeit zu einer Normalität zurückkehren, Impfstoff hin oder her. Auch wenn viele aktuell nach Leben und sozialen Kontakten lechzen, werden wir lange brauchen, bis sich Kulturproduktionen auf wirtschaftlich und ästhetisch vertretbare Wege einpegeln.
Ich habe in den vergangenen Monaten gespürt, wie wertvoll es für mich ist, immer wieder die Nahrung des Musizierens zu bekommen. Und wir sind genügsam geworden, was diese Nahrung anbelangt. Aber der Hunger wieder mit echtem Publikum in echten Kontakt zu treten, bleibt und wächst ungesättigt.
Ich hoffe, ich werde das, erst mal physisch bedingt, irgendwann wieder können. Ich bin in großer Sorge nicht nur um eine ganze Kultur- und Kreativbranche, sondern um sehr viele Menschen, um Existenzen – und damit meine ich ganz und gar nicht nur die monetäre Existenz, es geht um Seelengesundheit.
Passt auf euch auf! Nicht nur auf euch selbst, sondern übernehmt zusammen Verantwortung füreinander! Ja, wir müssen Dinge fordern, aber wir müssen auch genau unter die Lupe nehmen, wie wir selbst agieren. Kunst ist robust und flexibel. Künstler*innen sind es auch, aber nicht end- und bedingungslos.
Wenn wir aus tiefstem Inneren mit Gewissheit sagen können, warum wir unser Leben als Kulturschaffende führen und dabei Flexibilität beweisen, können wir auch zeigen, dass wir nicht nur „system- sondern lebensrelevant“ sind, um meinen Kollegen Niklas Liepe zu zitieren. Ich hoffe auf Perspektiven! So sehr!
Auwei, hat das lange gedauert, viele Anläufe gekostet und war das anstrengend diese Gedanken im Nebel des Schwindels aufzuschreiben, in meiner Welt des physischen und psychischen, sowie materiellen Lockdowns. Deprimierte und einsame Grüße aus einem besucherfreien Krankenhaus in Isolation! Euer Manuel